346
XII. Zusammenfassung: Anwendung von Wissen in der politischen Kultur
der von den Akteuren jeweils konstruiert wird. Es herrscht zwar Übereinstim-
mung darüber, welche Werte man teilt, wozu eine Buße prinzipiell dient, jedoch
wie eine Buße und ein öffentliches Sündenbekenntnis im politischen Sinn zu
deuten sind, ist Bestandteil eines Aushandlungsprozesses. So lassen sich die
erbitterten Diskussionen im Westfranken des 9. Jahrhunderts über die Freiwil-
ligkeit eines Sündenbekenntnisses, das im Rahmen eines Absetzungsprozesses
geleistet wurde, erklären — doch wäre wohl niemand auf die Idee gekommen,
von öffentlichen Sündenbekenntnissen Abstand zu nehmen, da sie trozt der
damit verbundenen Probleme als sinnfällig anerkannt wurden.
Es lässt sich ein Zusammenwirken aus Handlungen und Verschriftlichungen
beobachten. Eide, confessio und subscriptio gehören zusammen, erhalten ihren
Sinne erst in ihrer Kombination. Deutet man sie als Ausdrucksseite der politi-
schen Kultur, so verweisen sie nicht auf eine dahinter liegende „Verfassung",
sondern die Handlungen und ihre Deutungen konstituieren das „Politische" an
sich, das auf eine „Aura der Sichtbarkeit" angewiesen ist1439.
Aus diesem Charakter der politischen Ordnung lassen sich die Ängste und
Befürchtungen erklären, die zu beständigem Misstrauen gegenüber hohen
Amtsträgem wie Bischöfen führten: entweder konnten sie durch den König in-
strumentalisiert werden (Gunthar und Thietgaud und Lothar II.) oder diesen als
schlechte Ratgeber durch ihre Einflüsterungen fehlleiten. Das Fehlverhalten von
Bischöfen war gravierend, da ihre politische und moralische Führungsrolle zwar
allgemein anerkannt war — diese Anerkennung aber instabil blieb und ständig
erneuert werden musste. Daher wurden beständig Diskussionen darüber ge-
führt, dass das Vergehen eines einzelnen den ganzen Stand schädigen könne;
aber auch dass Bischöfe aufgrund ihrer besonderen Verantwortung nicht mit
Laien gleichgesetzt werden dürften.
Bei der Betrachtung der Konflikte ist insgesamt eine stärkere Abstraktion
angebracht: die Konflikte sollten nicht mehr nur als persönliche Streitigkeiten
gesehen und mit den Charakteren und den Befindlichkeiten der beteiligten
Personen erklärt werden. Ebenso wenig ergiebig ist im Hinblick auf politische
Kultur die Frage danach, wer „Recht" hatte. Es handelte sich in der Leitper-
spektive der vorliegenden Arbeit vielmehr um Kommunikationsverdichtungen
rund um „Schwachstellen" der politischen Ordnung, die in ständiger Bewegung
war, sich in situativer Verfestigung befand, wenn sie anschaulich gemacht
wurde, aber noch nicht verfestigt war. Welche Rolle die hier betrachteten Kon-
flikte des 9. und 10. Jahrhunderts für die Beteiligten gespielt haben, sieht man
daran, dass es bei allen Fällen in der Diskussion vom Konkreten zum Grund-
sätzlichen ging: Anlass, Verlauf uns Hintergrund der Konflikte, wurden genutzt,
um grundsätzliche Überlegungen über politische Ordnung anzustellen und in
verschiedenen Medien zu präsentieren.
Die Performanz stiftete Ordnung: Auf Synoden und Versammlungen, kon-
kreter in der Krypta oder vor dem Thron des Königs. In ihrer verschriftlichten
Form waren diese Eide, Sündenbekenntnisse oder Resignationen jedoch von den
1439 Zu diesem Begriff vgl. Rehberg, Präsenzmagie und Zeichenhaftigkeit, S. 35.
XII. Zusammenfassung: Anwendung von Wissen in der politischen Kultur
der von den Akteuren jeweils konstruiert wird. Es herrscht zwar Übereinstim-
mung darüber, welche Werte man teilt, wozu eine Buße prinzipiell dient, jedoch
wie eine Buße und ein öffentliches Sündenbekenntnis im politischen Sinn zu
deuten sind, ist Bestandteil eines Aushandlungsprozesses. So lassen sich die
erbitterten Diskussionen im Westfranken des 9. Jahrhunderts über die Freiwil-
ligkeit eines Sündenbekenntnisses, das im Rahmen eines Absetzungsprozesses
geleistet wurde, erklären — doch wäre wohl niemand auf die Idee gekommen,
von öffentlichen Sündenbekenntnissen Abstand zu nehmen, da sie trozt der
damit verbundenen Probleme als sinnfällig anerkannt wurden.
Es lässt sich ein Zusammenwirken aus Handlungen und Verschriftlichungen
beobachten. Eide, confessio und subscriptio gehören zusammen, erhalten ihren
Sinne erst in ihrer Kombination. Deutet man sie als Ausdrucksseite der politi-
schen Kultur, so verweisen sie nicht auf eine dahinter liegende „Verfassung",
sondern die Handlungen und ihre Deutungen konstituieren das „Politische" an
sich, das auf eine „Aura der Sichtbarkeit" angewiesen ist1439.
Aus diesem Charakter der politischen Ordnung lassen sich die Ängste und
Befürchtungen erklären, die zu beständigem Misstrauen gegenüber hohen
Amtsträgem wie Bischöfen führten: entweder konnten sie durch den König in-
strumentalisiert werden (Gunthar und Thietgaud und Lothar II.) oder diesen als
schlechte Ratgeber durch ihre Einflüsterungen fehlleiten. Das Fehlverhalten von
Bischöfen war gravierend, da ihre politische und moralische Führungsrolle zwar
allgemein anerkannt war — diese Anerkennung aber instabil blieb und ständig
erneuert werden musste. Daher wurden beständig Diskussionen darüber ge-
führt, dass das Vergehen eines einzelnen den ganzen Stand schädigen könne;
aber auch dass Bischöfe aufgrund ihrer besonderen Verantwortung nicht mit
Laien gleichgesetzt werden dürften.
Bei der Betrachtung der Konflikte ist insgesamt eine stärkere Abstraktion
angebracht: die Konflikte sollten nicht mehr nur als persönliche Streitigkeiten
gesehen und mit den Charakteren und den Befindlichkeiten der beteiligten
Personen erklärt werden. Ebenso wenig ergiebig ist im Hinblick auf politische
Kultur die Frage danach, wer „Recht" hatte. Es handelte sich in der Leitper-
spektive der vorliegenden Arbeit vielmehr um Kommunikationsverdichtungen
rund um „Schwachstellen" der politischen Ordnung, die in ständiger Bewegung
war, sich in situativer Verfestigung befand, wenn sie anschaulich gemacht
wurde, aber noch nicht verfestigt war. Welche Rolle die hier betrachteten Kon-
flikte des 9. und 10. Jahrhunderts für die Beteiligten gespielt haben, sieht man
daran, dass es bei allen Fällen in der Diskussion vom Konkreten zum Grund-
sätzlichen ging: Anlass, Verlauf uns Hintergrund der Konflikte, wurden genutzt,
um grundsätzliche Überlegungen über politische Ordnung anzustellen und in
verschiedenen Medien zu präsentieren.
Die Performanz stiftete Ordnung: Auf Synoden und Versammlungen, kon-
kreter in der Krypta oder vor dem Thron des Königs. In ihrer verschriftlichten
Form waren diese Eide, Sündenbekenntnisse oder Resignationen jedoch von den
1439 Zu diesem Begriff vgl. Rehberg, Präsenzmagie und Zeichenhaftigkeit, S. 35.