7. Wissen und Gemeinschaft
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ausführenden Körpern gelöst — auch von den anwesenden Zeugen. Die Aus-
druckskultur hatte also ihre Orte; die Reflexionskultur jedoch wurde dort
grundgelegt, wo die Texte gespeichert wurden: In den bischöflichen und klös-
terlichen Archiven und Bibliotheken.
7. Wissen und Gemeinschaft
Die Überlegungen von Aleida Assmann zu Erinnerung und Gedächtnis wurden
als Anregung zur Analyse des Fortlebens des Wissens um das Bischofsamt im 10.
und frühen 11. Jahrhundert verwendet. Ihre Ausführungen zu Funktionsge-
dächtnis und Speichergedächtnis dienten als Anregung von „Funktionswissen"
und „Speicherwissen" zu sprechen. So konnten diese Ansätze angepasst auf die
früh- und hochmittelalterlichen Bedingungen neue Perspektiven auf Gesell-
schaft, Wissen und Texte generieren.
Insbesondere der Umgang mit Wissen bei Flodoard von Reims, Gerbert von
Reims und in dem Reformumfeld von Fleury konnte damit erklärt werden.
Geschichte und Gedächtnis wurden als zwei komplementäre Formen der Erin-
nerung verstanden. Das Funktionsgedächtnis steht dabei für ein Gedächtnis mit
Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung1440. Das
Speichergedächtnis hingegen ist das Gedächtnis des Gedächtnisses, eine amor-
phe Masse an Relikten und „besitzerlos gewordenen Beständen", das aufbe-
wahrt und wieder aufbereitet und so wieder zum Funktionsgedächtnis werden
kann. Es ist daher kein Gegensatz des Funktionsgedächtnisses, sondern dessen
Hintergrund1441. Diese komplementären Formen der Erinnerung wurden hier
nicht aus das individuelle, sondern auf das kulturelle Gedächtnis übertragen.
Durch die Nutzung der Schrift und die Einrichtung von Archiven kann erst
von Körpern losgelöstes abstraktes Wissen gespeichert werden: es lässt sich
mehr aufzeichnen und speichern, als man erinnern kann. Das Potential dieser Art
der Speicherung liegt in der Überführung in ein Gedächtnis jenseits lebendiger
Träger; es ist unabhängig von der Aktualisierung in kollektiven Inszenierungen.
Doch nach der Generation der erstmals Speichernden kann die weitere Nutzung
nicht mehr bestimmt werden. Es besteht eine tendenziell unbeschränkte Akku-
mulation von Informationen, diese müssen erst wieder mit Sinn für eine Ge-
meinschaft in einem konstruktiven Akt versehen werden. Die Bedingungen für
kulturelle Archive und abstraktes Wissen konnten hier am Beispiel des Wissens
vom Bischofsamt und über die Absetzung von Bischöfen aufgezeigt werden: Erst
in einem von Akteuren aktualisierten Funktionsgedächtnis werden Informa-
tions-Elemente komponiert, konstruiert und verbunden. Aus diesem konstruk-
tiven Akt geht Sinn hervor. Diese Qualität fehlt dem Speichergedächtnis. Daher
ist nach diesem Konzept weder mit dem Aufbewahren noch mit dem Ab-
1440 Assmann, Funktionsgedächtnis, S. 134.
1441 Ebd. S. 136.
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ausführenden Körpern gelöst — auch von den anwesenden Zeugen. Die Aus-
druckskultur hatte also ihre Orte; die Reflexionskultur jedoch wurde dort
grundgelegt, wo die Texte gespeichert wurden: In den bischöflichen und klös-
terlichen Archiven und Bibliotheken.
7. Wissen und Gemeinschaft
Die Überlegungen von Aleida Assmann zu Erinnerung und Gedächtnis wurden
als Anregung zur Analyse des Fortlebens des Wissens um das Bischofsamt im 10.
und frühen 11. Jahrhundert verwendet. Ihre Ausführungen zu Funktionsge-
dächtnis und Speichergedächtnis dienten als Anregung von „Funktionswissen"
und „Speicherwissen" zu sprechen. So konnten diese Ansätze angepasst auf die
früh- und hochmittelalterlichen Bedingungen neue Perspektiven auf Gesell-
schaft, Wissen und Texte generieren.
Insbesondere der Umgang mit Wissen bei Flodoard von Reims, Gerbert von
Reims und in dem Reformumfeld von Fleury konnte damit erklärt werden.
Geschichte und Gedächtnis wurden als zwei komplementäre Formen der Erin-
nerung verstanden. Das Funktionsgedächtnis steht dabei für ein Gedächtnis mit
Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung1440. Das
Speichergedächtnis hingegen ist das Gedächtnis des Gedächtnisses, eine amor-
phe Masse an Relikten und „besitzerlos gewordenen Beständen", das aufbe-
wahrt und wieder aufbereitet und so wieder zum Funktionsgedächtnis werden
kann. Es ist daher kein Gegensatz des Funktionsgedächtnisses, sondern dessen
Hintergrund1441. Diese komplementären Formen der Erinnerung wurden hier
nicht aus das individuelle, sondern auf das kulturelle Gedächtnis übertragen.
Durch die Nutzung der Schrift und die Einrichtung von Archiven kann erst
von Körpern losgelöstes abstraktes Wissen gespeichert werden: es lässt sich
mehr aufzeichnen und speichern, als man erinnern kann. Das Potential dieser Art
der Speicherung liegt in der Überführung in ein Gedächtnis jenseits lebendiger
Träger; es ist unabhängig von der Aktualisierung in kollektiven Inszenierungen.
Doch nach der Generation der erstmals Speichernden kann die weitere Nutzung
nicht mehr bestimmt werden. Es besteht eine tendenziell unbeschränkte Akku-
mulation von Informationen, diese müssen erst wieder mit Sinn für eine Ge-
meinschaft in einem konstruktiven Akt versehen werden. Die Bedingungen für
kulturelle Archive und abstraktes Wissen konnten hier am Beispiel des Wissens
vom Bischofsamt und über die Absetzung von Bischöfen aufgezeigt werden: Erst
in einem von Akteuren aktualisierten Funktionsgedächtnis werden Informa-
tions-Elemente komponiert, konstruiert und verbunden. Aus diesem konstruk-
tiven Akt geht Sinn hervor. Diese Qualität fehlt dem Speichergedächtnis. Daher
ist nach diesem Konzept weder mit dem Aufbewahren noch mit dem Ab-
1440 Assmann, Funktionsgedächtnis, S. 134.
1441 Ebd. S. 136.