III. Der König und seine Bischöfe
1. Die Vorstellungen Karls des Kahlen
1.1. Spezifische politische Kultur Westfrankens
Politische Kulturforschung muss nach Karl Rohe nicht nur „herausfinden, was
aus der Perspektive jeweiliger politischer Kulturen Politik sein soll, sondern
auch, was aus ihrer Sicht überhaupt Politik ist und sein kann203". Politische
Kultur als eine gesellschaftliche Konstruktion von politischer Wirklichkeit204
besitzt somit eine normative und eine kognitive Dimension. Sie beruht auf
Grundannahmen, die als Maßstäbe dienen, um Politik wahrzunehmen, zu in-
terpretieren und zu beurteilen. Für Westfranken waren die Auffassungen vom
Königs- und Bischofsamt wesentlicher Bestandteil dieser politischen Kultur205.
Wissen darüber bestimmte die Wahrnehmung bestimmter politischer Sachver-
halte. Diese Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe sollen im fol-
genden Kapitel in Bezug auf das Verhältnis von König und Bischöfen im
9. Jahrhundert analysiert werden.
Anlass für solche Reflexionen bieten in der Regel Konflikte206; besonders gut
geeignet für die formulierte Fragestellung sind Konflikte zwischen Königen und
Bischöfen. Daher sollen hier am Beispiel des Konflikts zwischen Karl dem Kahlen
und Erzbischof Wenilo von Sens die Fragen nach der politischen Kultur erörtert
werden. Der Konflikt drehte sich um Wenilos Unterstützung für König Ludwig
den Deutschen bei dessen Einfall in das Reich seines Bruders Karl.
In einem ersten Schritt wird die Wahrnehmung des Sachverhalts durch Karl
den Kahlen und seine Interpretation in der Anklageschrift gegen Wenilo von 859
untersucht werden207. In einem zweiten Schritt werden die Vorstellungen
Hinkmars von Reims über das Verhältnis von König und Bischöfen anhand des
Synodalbriefs von Quierzy thematisiert. Dieser Brief enthält Reflexionen über
203 Rohe, Politische Kultur, S. 335.
204 In Anlehnung an Berger/Luckmann, Konstruktion der Wirklichkeit.
205 Ein Kennzeichen der spezifischen politischen Kultur des westfränkischen Reiches war auch
darüberhinausgehend eine Reflexion über das Zusammenwirken der verschiedenen Stände und
Gewalten. Bereits im Kapitular von Coulaines 843 sind solche Überlegungen festgehalten
worden und das Reich als Handlungsgemeinschaft von König, Bischöfen, Äbten, Grafen und
allen weiteren weltlichen und geistlichen Ständen definiert worden. Das Schriftstück ist aus der
Reichsversammlung Karls des Kahlen im November 843 in Coulaines hervorgegangen, MGH
Cone. III, S. 10-17. Vgl. ebd. S. 13 die Nachweise zur Nachwirkung der Kapitel von Coulaines bei
weiteren programmatischen Versammlungen, z. B. Pitres 869.
206 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. nur die Überlegungen bei Airlie, Not
rendering sowie West, Evaluating conflict, bes. S. 317f.
207 Libellus proclamationis, MGH Cone. III, S. 465 f. Zu den Ereignissen vgl. Devisse, Hincmar I,
S. 281-366; Hartmann, Ludwig der Deutsche, S. 49-52.
1. Die Vorstellungen Karls des Kahlen
1.1. Spezifische politische Kultur Westfrankens
Politische Kulturforschung muss nach Karl Rohe nicht nur „herausfinden, was
aus der Perspektive jeweiliger politischer Kulturen Politik sein soll, sondern
auch, was aus ihrer Sicht überhaupt Politik ist und sein kann203". Politische
Kultur als eine gesellschaftliche Konstruktion von politischer Wirklichkeit204
besitzt somit eine normative und eine kognitive Dimension. Sie beruht auf
Grundannahmen, die als Maßstäbe dienen, um Politik wahrzunehmen, zu in-
terpretieren und zu beurteilen. Für Westfranken waren die Auffassungen vom
Königs- und Bischofsamt wesentlicher Bestandteil dieser politischen Kultur205.
Wissen darüber bestimmte die Wahrnehmung bestimmter politischer Sachver-
halte. Diese Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe sollen im fol-
genden Kapitel in Bezug auf das Verhältnis von König und Bischöfen im
9. Jahrhundert analysiert werden.
Anlass für solche Reflexionen bieten in der Regel Konflikte206; besonders gut
geeignet für die formulierte Fragestellung sind Konflikte zwischen Königen und
Bischöfen. Daher sollen hier am Beispiel des Konflikts zwischen Karl dem Kahlen
und Erzbischof Wenilo von Sens die Fragen nach der politischen Kultur erörtert
werden. Der Konflikt drehte sich um Wenilos Unterstützung für König Ludwig
den Deutschen bei dessen Einfall in das Reich seines Bruders Karl.
In einem ersten Schritt wird die Wahrnehmung des Sachverhalts durch Karl
den Kahlen und seine Interpretation in der Anklageschrift gegen Wenilo von 859
untersucht werden207. In einem zweiten Schritt werden die Vorstellungen
Hinkmars von Reims über das Verhältnis von König und Bischöfen anhand des
Synodalbriefs von Quierzy thematisiert. Dieser Brief enthält Reflexionen über
203 Rohe, Politische Kultur, S. 335.
204 In Anlehnung an Berger/Luckmann, Konstruktion der Wirklichkeit.
205 Ein Kennzeichen der spezifischen politischen Kultur des westfränkischen Reiches war auch
darüberhinausgehend eine Reflexion über das Zusammenwirken der verschiedenen Stände und
Gewalten. Bereits im Kapitular von Coulaines 843 sind solche Überlegungen festgehalten
worden und das Reich als Handlungsgemeinschaft von König, Bischöfen, Äbten, Grafen und
allen weiteren weltlichen und geistlichen Ständen definiert worden. Das Schriftstück ist aus der
Reichsversammlung Karls des Kahlen im November 843 in Coulaines hervorgegangen, MGH
Cone. III, S. 10-17. Vgl. ebd. S. 13 die Nachweise zur Nachwirkung der Kapitel von Coulaines bei
weiteren programmatischen Versammlungen, z. B. Pitres 869.
206 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. nur die Überlegungen bei Airlie, Not
rendering sowie West, Evaluating conflict, bes. S. 317f.
207 Libellus proclamationis, MGH Cone. III, S. 465 f. Zu den Ereignissen vgl. Devisse, Hincmar I,
S. 281-366; Hartmann, Ludwig der Deutsche, S. 49-52.