Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 4.1924

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Je cherche après Titine
DOI article:
Marginalien
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0107
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

MARGINALIEN
Gehen wir einem Plünderungskommunismus entgegen? Einem Fensterscheibensozialismus, der
mit den Theorien von Karl Marx nichts mehr zu tun hat? Wahrscheinlich nicht, wenn Stresemann
und der geschickt gewählte Graf Kanitz nur einigermaßen für eine regelmäßige Brot-, Kartoffel-
und Fettversorgung der Städte aufzukommen wissen. Dieses geduldigste, folgsamste, von Natur
unrevolutionäre Volk ist nicht bloß zu matt zur Erhebung, es ist auch zu gutmütig, um «russisch«
zu reden. Vor einiger Zeit hat die Wienerin Frau Eugenie Schwarzwald im Berliner Schloß
eine Notküche für geistige Arbeiter eröffnet. Die rührige, im Helfen erfahrene Frau wollte keine
Sträßenküche für jedermann aufmachen, sie wollte die halb verhungerten Gelehrten und Künstler
aus ihren kalten Arbeitsstätten locken, die Ungeschicktesten und lautlos Hungernden. Aber am
dritten Tage war die Küche im Schloß von Leufen belagert, die nicht vorgemerkt waren und die
dennoch einen heißen Teller Suppe begehrten. Die unerwarteten Gäste mußten abgewiesen werden
Geschrei, Beschimpfungen, Drohungen. Sie wollten die Küche stürmen. Da geht im größten
Tumult die beherzte Wienerin unter die Leute. Sie tritt hinaus, beginnt zu reden, es wird stille
um sie, sie schaut an die abgezehrten Gesichter, stockt in ihrer Rede und bricht in Tränen aus.
Was wahrscheinlich keiner wohlüberlegten Rede gelungen wäre, das bewirkten diese Tränen. Die
Leute, eben noch in Wut, wurden verlegen, die Wildesten schlichen beklommen beiseite, die
Trösterin wurde getröstet. Sind solche Menschen Barrikadenbauer? Nie hat ein Volk geduldiger
die Qual dieser fürchterlichen Jahre ertragen, und es sind neun Jahre der Freudlosigkeit, der
Angst, der Sorge, die wir hinter uns haben. Wer aus den abgeschlossenen Gärten der Bourgeoisie
herausfindet, der weiß, daß das seelische Kapital des deutschen Arbeiters, auch des Berliners,
nicht angefressen ist. (Weltbühne.)

5*

67
 
Annotationen