Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0045
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Heft 1
DOI Artikel:Woolf, Virginia: Joseph Conrad
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auf gefährlichem Boden marschieren, ließe sich auf diese Weise die Wandlung,
die Conrad seiner Erzählung nach widerfuhr, als er die letzte Geschichte im
Sammelband Typhoon beendet hatte — „eine merkliche Wandlung darin, die
Dinge zu sehen" — durch irgendeine Trübung in den Beziehungen zwischen den
zwei alten Freunden erklären... „es schien irgendwie, als gäbe es nichts mehr
auf der Welt, worüber man hätte schreiben können". Es war Conrad, wollen wir
einmal annehmen, Conrad der Schöpferische, der so sprach, mit einem Rückblick
voll kummervoller Befriedigung auf seine schon geschriebenen Geschichten. Ihn
erfüllte das berechtigte Gefühl, daß er eine bessere
Schilderung als die des Sturmes im Nigger of tbe
Narcissus nicht schreiben könne, noch auch den
Tugenden britischer Seeleute ehrlicheren Tribut
zollen, als er es schon in Youtb und Lord Jim
getan hatte. Da nun gemahnte ihn Marlow, der
Erläuterer, daß es der Lauf der Natur sei, alt zu
werden, rauchend auf Deck zu sitzen und die
Seefahrerei aufzugeben. Aber, gemahnte er ihn,
diese unruhvollen Jahre hatten Eindrücke hinter-
lassen; ja, er ging sogar so weit, anzudeuten, daß,
wenn auch das letzte Wort über Kapitän Whalley
und seine Beziehungen zum Weltall gesagt sein
dürfte, es auf dem Erdball noch eine ganze An-
zahl von Männern und Frauen gäbe, deren Be-
ziehungen, wenn auch mehr persönlicher Natur,
vielleicht der Untersuchung wert wären. Wenn
wir weiter annehmen, daß sich ein Band von Henry
James auf Bord herumtrieb und Marlow das Buch
seinem Freunde mit ins Bett gab, so wird diese
Annahme von der Tatsache unterstützt, daß
Conrad ums Jahr 1905 einen sehr feinsinnigen
Essay über diesen Meister schrieb.
Während etlicher folgender Jahre hatte dann
Marlow die Oberhand. Nostromo, Chance, The
Nina Hamnett, Schiffsfigur
Arrow of Gold zeugen für diese Verbindungen aus einer Zeit, die manche die
reichste dünkt. Das menschliche Herz ist verworrener als ein Dickicht — sagen
sie wohl; es hat seine Stürme; es hat seine Nachtgeschöpfe; und wenn du
als Romanschreiber die Menschen in allen ihren Beziehungen schildern willst,
so ist der gegebene Gegenspieler der Mensch; sein Prüfstein ist die Gesellschaft,
nicht die Einsamkeit. Für solche Leser hat immer jene Art Bücher eine besondere
Anziehung, in denen das Auge des Künstlers nicht nur auf die weite Wasserwüste
blickt, sondern auf die Wirrnis des Herzens. Aber es muß gesagt werden, daß,
wenn Marlow Conrad veranlaßt hat, seinen Betrachtungswinkel zu ändern, der
Rat gewagt war. Denn die Betrachtungsweise des Romanschreibers ist zugleich
allgemeingültig und besonders; allgemeingültig, denn hinter seinen Charakteren
und von ihnen losgelöst muß es etwas Festes geben, zu dem er sie in Beziehung
bringt; besonders, denn sintemalen er ein Einzelwesen ist mit nur einer Aufnahme-
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die Conrad seiner Erzählung nach widerfuhr, als er die letzte Geschichte im
Sammelband Typhoon beendet hatte — „eine merkliche Wandlung darin, die
Dinge zu sehen" — durch irgendeine Trübung in den Beziehungen zwischen den
zwei alten Freunden erklären... „es schien irgendwie, als gäbe es nichts mehr
auf der Welt, worüber man hätte schreiben können". Es war Conrad, wollen wir
einmal annehmen, Conrad der Schöpferische, der so sprach, mit einem Rückblick
voll kummervoller Befriedigung auf seine schon geschriebenen Geschichten. Ihn
erfüllte das berechtigte Gefühl, daß er eine bessere
Schilderung als die des Sturmes im Nigger of tbe
Narcissus nicht schreiben könne, noch auch den
Tugenden britischer Seeleute ehrlicheren Tribut
zollen, als er es schon in Youtb und Lord Jim
getan hatte. Da nun gemahnte ihn Marlow, der
Erläuterer, daß es der Lauf der Natur sei, alt zu
werden, rauchend auf Deck zu sitzen und die
Seefahrerei aufzugeben. Aber, gemahnte er ihn,
diese unruhvollen Jahre hatten Eindrücke hinter-
lassen; ja, er ging sogar so weit, anzudeuten, daß,
wenn auch das letzte Wort über Kapitän Whalley
und seine Beziehungen zum Weltall gesagt sein
dürfte, es auf dem Erdball noch eine ganze An-
zahl von Männern und Frauen gäbe, deren Be-
ziehungen, wenn auch mehr persönlicher Natur,
vielleicht der Untersuchung wert wären. Wenn
wir weiter annehmen, daß sich ein Band von Henry
James auf Bord herumtrieb und Marlow das Buch
seinem Freunde mit ins Bett gab, so wird diese
Annahme von der Tatsache unterstützt, daß
Conrad ums Jahr 1905 einen sehr feinsinnigen
Essay über diesen Meister schrieb.
Während etlicher folgender Jahre hatte dann
Marlow die Oberhand. Nostromo, Chance, The
Nina Hamnett, Schiffsfigur
Arrow of Gold zeugen für diese Verbindungen aus einer Zeit, die manche die
reichste dünkt. Das menschliche Herz ist verworrener als ein Dickicht — sagen
sie wohl; es hat seine Stürme; es hat seine Nachtgeschöpfe; und wenn du
als Romanschreiber die Menschen in allen ihren Beziehungen schildern willst,
so ist der gegebene Gegenspieler der Mensch; sein Prüfstein ist die Gesellschaft,
nicht die Einsamkeit. Für solche Leser hat immer jene Art Bücher eine besondere
Anziehung, in denen das Auge des Künstlers nicht nur auf die weite Wasserwüste
blickt, sondern auf die Wirrnis des Herzens. Aber es muß gesagt werden, daß,
wenn Marlow Conrad veranlaßt hat, seinen Betrachtungswinkel zu ändern, der
Rat gewagt war. Denn die Betrachtungsweise des Romanschreibers ist zugleich
allgemeingültig und besonders; allgemeingültig, denn hinter seinen Charakteren
und von ihnen losgelöst muß es etwas Festes geben, zu dem er sie in Beziehung
bringt; besonders, denn sintemalen er ein Einzelwesen ist mit nur einer Aufnahme-
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