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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 1
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Cohen-Portheim, Paul: High Bohemia
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0072
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reicht zur Zeit bis zu den Surrealistes. — Literatur ist nicht ganz so einfach, denn
einige Engländer dürfen nicht übersehen werden: die Sitwells, Huxley, Garnett,
Robert Byron sowie jede Saison ein paar neue, auf deren Dauer berechnete
Namen. Bernard Shaw ist ein Spießeridol, Joyce ein verkappter Bourgeois. Der
größte Franzose ist Jean Cocteau.
Was man von den verschiedenen Ländern zu halten hat, ist genau, wenn auch
nicht unabänderlich, festgelegt. Bewunderung für Frankreich ist so selbstver-
ständlich, daß es geschmacklos wäre, sie besonders zu betonen. High Bohemia
lebt oder verbringt einen Teil des Jahres in Paris (meist im „Grand Ecart" oder
„Boeuf sur le toit"); Frankreich kann nicht „entdeckt" werden. Deutschland
dagegen, speziell Berlin, wurde vor etwa vier Jahren entdeckt, und eine Zeitlang
galt es als unerläßlich, das dortige „Eldorado", das Wellenbad und die Ufa-Filme
„simply terrifically beautiful" zu finden (man hat stets in Superlativen zu sprechen,
was, nebenbei gesagt, an Berlin W erinnert). Diese Zeit ist ganz vorüber. Man
streut wohl noch hier und da nachlässig eine deutsche Phrase ein (französische
überläßt man den Modereportern), aber es ist altmodisch, sich für Deutschland
zu begeistern. Der populäre Erfolg der Emil Ludwig, Feuchtwanger, Remarque
usw. hat es unmöglich gemacht. Rußland und die Sowjets sind High Bohemia
sympathisch, aber es zieht vor, sie nicht aus der Nähe kennenzulernen — es
genügt, die Krassin-Girls (Töchter des ehemaligen Botschafters) zu Cocktail-
parties einzuladen. Was die U. S. A. betrifft, so gehört es zum guten Ton, New
York zu kennen und Skyscraper als höchste Blüte der Architektur zu preisen, im
übrigen aber sind Amerikaner natürlich nicht ernst zu nehmen. Andere Völker
existieren, geistig gesprochen, nicht, wohl aber geographisch, denn High Bohemia
hat einen Privatatlas, der nur jene Orte verzeichnet, die man besuchen darf,
ohne für immer entehrt zu werden. In England selbst zunächst kommen, außer
London, nur Landhäuser von Bekannten in Frage, sowie gelegentliche Besuche
in Oxford oder Cambridge. Besonders streng verboten sind sämtliche Seebäder.
In Frankreich verzeichnet die Karte neben Paris Antibes (Juan les Pins ist ge-
strichen); Deauville, Le Touquet, Biarritz gehören den Leuten, die einfach smart
sind, mit denen aber High Bohemia nicht verwechselt zu werden wünscht.
Selbstverständlich sind alle unbekannten und daher unkontrollierbaren Orte ge-
stattet. Italien hat, trotzdem der Lido nicht mehr erwähnt werden darf und Florenz
nur mit leichtem Achselzucken, immerhin noch Calabrien, Assisi und Bagni di
Lucca; Spanien steht in Gnade, besonders die Balearen, und in Afrika liegt Tunis.
Salzburg, Hamburg, Berlin sind die Hauptpunkte Zentraleuropas. In den U. S. A.
sind Palm Beach, Hollywood und New York (vielmehr Harlem) zu erwähnen.
Asien ist ganz aus der Mode und am allerstrengsten verpönt ist der Besuch
irgendeines Teiles des britischen Empire.
III
Falls ein Mitglied der High Bohemia einen Beruf hat, kommt nur ein künst-
lerischer in Frage (Mode, Photographie und Antiquitätenhandel sind natürlich
Kunstzweige); am besten aber hat man gar keinen Beruf und kann sich ausschließ-
lich dem Besuch oder der Veranstaltung von „parties" widmen. Parties sind der

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