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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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Galahad: Urweiber
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0175
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den kein Fremdgeborener je kapiert, dieses Valais klatscht einen Zipfel feuchtes
Rhönedelta um den oberen Rand des Genfersees ans Savoyische Ufer hinüber,
das dunkel abstürzt mit violetten Flanken, fremdenleer ist wie der Peloponnes,
doch dankbar zu photographieren von der kurgästebewimmelten Montreuxer
Seeseite aus, im Kanton de Vaux.
Der ist wieder einer von den Strebsamen, mit schneidigen Chirurgen in blitz-
blanken Kliniken, milde gegen Mord, unerbittlich gegen Naturheilerei. Momentan
haut er im Banne neuer Sachlichkeit mit Spitzhacken die restlichen Ornamente
aus dem blechernen Zeitalter von den Fassaden, daß es nur so spritzt, treibt
marmorglatte Eckläden den Häusern rechtwinklig in ihre falschen Barockbäuche
hinein, und jede Waschschüssel bekommt in der Mitte unten ein Loch, wodurch
sich der Zimmerpreis um fünf Francs täglich erhöhen läßt. Gerade diesem
Kanton muß es nun passieren, daß en face, im hingeklatschten Rhönezipfel des
Valais — mit einem Flintenschuß, doch nicht mit dem Gesetz erreichbar — ein
Urweib heilt, der Wissenschaft die Kranken wegheilt, scharenweise.
Schon Boden, Luft und Rasse spiegeln auf beiden Ufern ihren grundverschie-
denen Zeitkreis wieder.
Während hüben Boys und Girls, wie hergestellt am laufenden Band, in
smartem Sonnenschein, der Eintrittsgeld erhebt, ihre leeren Puppenhülsen
dörren, bleibt drüben das Urweib saftig im Nordschatten mit ihrer Brut. Von
dort rollen die Schwaden verdächtiger Nebel her, der hellen Seite ihr ultra-
violettes Lichtgeschäft zu trüben. Dort schlägt sich nachts das Inselhafte des
Mondes nieder, des Schwangersterns, auf Röhricht und Moos; weist ins Nadir,
erdnabelwärts, ins Brütende, Verschlummernde und Schwerbeseelte, als Gegenpol
zu reinlich glatter, doch lebensdünn gewalkter Zivilisation.
Wie bekannt, bleibt selbst der reinlich glättesten aller bisher erreichten
Zivilisationen: der unsern, ein Erdenrest zu tragen peinlich.
Wer des Valaiser Urweibs Hilfe sucht, hat ihr ein Probefläschchen seines
speziellen Erdenrestes (die flüssige Art) als „echantillon", Muster ohne Wert
verpackt, zu schicken. War die Adresse des Absenders vermerkt, so erhält dieser
meist, wenn auch erst nach geraumer Zeit, per Nachnahme ein umfangreiches
Konvolut, daraus des Interessanten viel zutage kommt, wie Balsam, Öle, Dekok-
tionen, Essenzen, Pillenartiges und Kräutertee. Ein jegliches von ungeahnter
Scheußlichkeit für den Geschmack. Nur Bitteres hilft! Hinzugefügt in Kinder-
schrift auf liniiertem Zettel, sind Gebrauchsanweisung, Diätregeln, Krankheits-
befund, die das Urweib der umwohnenden Schuljugend in den Bleistift zu
diktieren pflegt. Dies vorschnellen Graphologen zur Warnung.
Über die Person des Kranken will sie nichts erfahren, als was der Inhalt des
Probefläschchens zeigt. Aus ihm diagnostiziert sie nicht nur Stoffwechselleiden,
sondern jedes Gebrest; behandelt auch — es ist nicht leicht und voll Ver-
antwortung, das hinzuschreiben — Tuberkulose, Arthritis deformans, Krebs.
Heilen solche Übel unter Laienpflege aus, hilft sich die zünftige Wissenschaft
bekanntlich leicht, indem sie, vielleicht entgegen eigener früherer Diagnose,
die Krankheit für hysterischen Ursprungs erklärt.
Wer auf seine „Muster-ohne-Wert"-Sendung hin kein Konvolut bekommt,
ist übel dran, denn es bedeutet, daß SIE nichts für ihn vermag. Der Grund bleibt

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