Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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Heft 4
DOI Artikel:Pringsheim, Klaus: Zustand heutiger Musik
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Adolf Dehn
ZUSTAND HEUTIGER MUSIK
Von
KLAUS PRINGSHEIM
Genau gesagt, ist das, worin die heutige Musik sich befindet, überhaupt kein
Zustand; sondern Fluß, oder ein fließender Zustand allenfalls, Flußrichtung
unbestimmt. Es fragt sich leicht: wo stehen wir? —, aber es beantwortet sich
schwer, und das ist der nächste Sinn der Frage: wohin geht es, und wie soll es
weitergehen? Vorwärts, die Losung ist leicht ausgegeben, aber wo ist vorn? Man
müßte wieder von vorn anfangen; seit Jahren sind die Auguren des Fortschritts
nicht in solcher Verlegenheit gewesen. Wer „Gegenwart" sagt, meint Zukunft;
der Augenblick soll es in sich haben, zu verweilen, die Stunde, sich selbst zu über-
dauern. Doch während allem Heutigen heimlich bangt, daß es schon morgen zum
Gestern geworfen wird, lauert, wohin wir blicken, das Gestrige, morgen wieder
zum Heute zu avancieren. Man nennt so etwas Reaktion auf der ganzen Linie;
fragt sich nur, Reaktion worauf. Mit einem Wort, es ist ein Zustand.
Versuchen wir, diesem Zustand beizukommen. Erst muß mit einem kleinen
Mißverständnis aufgeräumt werden. So sicher ein mathematischer Punkt keine
Ausdehnung hat — jeder Punkt einer geschichtlichen Entwicklung, also auch der
jeweilige Gegenwartspunkt, hat nicht nur sein Wohin, sondern sein Woher.
„Heute", das ist der Tag, wie sich in ihm die Summe des Jahres, und das Jahr,
wie in diesem sich die Summe des Jahrzehnts — und, seien wir großzügig, des
Jahrhunderts niedergeschlagen hat; Gegenwart, wie sie ist und wie sie geworden
ist. Sie sagen Gegenwart und meinen Zukunft, und hier liegt die Wurzel des
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