Experiment und jeder soziale Vorstoß, alles irgendwie Ungewohnte, im Augenblick
Befremdliche, Verdächtige, vielleicht Gefährliche, Unbequeme sich bequem
bringen läßt.
Die Ideen und Errungenschaften der Neuen Musik sind fast alle da-
gewesen, schon vor 1918: von der Überwindung des Impressionismus, der
schon durch Puccini schwer kompromittiert war, bis zum „linearen" Kontra-
punkt, der schon immer linear gewesen ist; von der neuen Antiwagnerei,
die Emil Ludwigs Spürnase schon 1913, im Wagner-Jubiläumsjahr, witterte,
bis zum Saxophon, mit dem schon Richard Strauß es versucht hat, wie
vor ihm Berlioz und andere, und nach dessen Klängen Generationen belgischer
und französischer Rekruten ausgebildet worden sind. (Auch als musikalisch-
technisches Novum ist Jazz ja lächerlich überschätzt worden; bei uns hat sich
gar, in Frankfurt, etwas wie eine Jazz-Akademie aufgetan: man soll uns nicht nach-
sagen, daß wir ein Volk sind, das keinen Ernst versteht.) Alles Neue war längst
beschlossen — im Lebenswerk von Musikern, die heute... nun gewiß, die Grenze
des Schutzalters, oder nicht nur diese, überschritten haben. Die Namensliste
muß unvollständig bleiben; sie müßte mit Mahler und Debussy beginnen. Oder
eigentlich sollten Busoni und Satie, beide Jahrgang 1866, an der Spitze stehen:
dieser auf der französischen, jener auf der europäischen Liste. Angefangen mit
der „jungen Klassizität" gibt es kaum ein Schlagwort dieses Jahrzehnts, das
nicht falsch verstandener oder richtig nachgesprochener Busoni war. Und die
Lebenden? Schönberg? Strawinsky? (Um nicht auch von Bartok oder Casella
oder Pizzetti und— wieviel andern zu reden.) Schönbergs Zwölftonsystem stand
fest, abgeschlossen in allem Wesentlichen, lange bevor die Atonalen ihre neue
Heilslehre darauf gründeten. Strawinskys „Sacre du printemps", von ihnen als
Standardwerk reklamiert, war vor dem Krieg, 1913, vollendet (man kann auch
mit Dreißig schon Endgültiges schaffen), die „Noces villageoises" stammen aus
dem dritten Kriegsjahr, „Petruschka" ist so alt wie der „Rosenkavalier"; so alt
ist die Welt und Ideenwelt, aus der unsere revolutionäre und nachrevolutionäre
Kampfjugend ihre Waffen bezog.
Als bei uns von Strawinsky, gar vom „Sacre", noch nicht die Rede war, Berlin
ist nicht Paris, da war er längst bei der Soldatengeschichte, ohne die es Milhauds
Matrosenoper und auch sonst allerlei nicht gäbe, und bei „Pulcinella", auf die
alle modernen Versuche und Vorsätze, aus alter Musik neue Musik zu machen,
zurückgehen. Strawinsky ist immer längst woanders; seine Werke haben Zeit,
er hat keine. Schrecklich, wie er seinen Propheten mitspielt. Da haben sie also,
wie der Meister sie unterwiesen, unentwegt die Romantik überwunden, so beharr-
lich und so gründlich, daß keiner mehr weiß, was eigentlich Romantik ist; und
eines Tages kommt er ihnen mit einem hochromantischen Feenballett, und damit
nicht genug, wächst dieser „Baiser de la Fee" sich zu einer Ovation und Demon-
stration für Tschaikowsky aus — für Tschaikowsky, von dem eben noch bekannt
war, daß seine schändliche Melodienseligkeit für heutige Menschen, hart und
kalt wie wir sind, nicht zum Aushalten ist. Und da haben sie Bach neu entdeckt
und die reine Polyphonie und den fettlosen Klang und das Kammerorchestrale,
der neue Bach ist das Stahlbad, in dem sie sich vom Schlamm und Schleim des
straußisch-schrekerischen Überorchesters erholen... und dann kommt Schön-
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Befremdliche, Verdächtige, vielleicht Gefährliche, Unbequeme sich bequem
bringen läßt.
Die Ideen und Errungenschaften der Neuen Musik sind fast alle da-
gewesen, schon vor 1918: von der Überwindung des Impressionismus, der
schon durch Puccini schwer kompromittiert war, bis zum „linearen" Kontra-
punkt, der schon immer linear gewesen ist; von der neuen Antiwagnerei,
die Emil Ludwigs Spürnase schon 1913, im Wagner-Jubiläumsjahr, witterte,
bis zum Saxophon, mit dem schon Richard Strauß es versucht hat, wie
vor ihm Berlioz und andere, und nach dessen Klängen Generationen belgischer
und französischer Rekruten ausgebildet worden sind. (Auch als musikalisch-
technisches Novum ist Jazz ja lächerlich überschätzt worden; bei uns hat sich
gar, in Frankfurt, etwas wie eine Jazz-Akademie aufgetan: man soll uns nicht nach-
sagen, daß wir ein Volk sind, das keinen Ernst versteht.) Alles Neue war längst
beschlossen — im Lebenswerk von Musikern, die heute... nun gewiß, die Grenze
des Schutzalters, oder nicht nur diese, überschritten haben. Die Namensliste
muß unvollständig bleiben; sie müßte mit Mahler und Debussy beginnen. Oder
eigentlich sollten Busoni und Satie, beide Jahrgang 1866, an der Spitze stehen:
dieser auf der französischen, jener auf der europäischen Liste. Angefangen mit
der „jungen Klassizität" gibt es kaum ein Schlagwort dieses Jahrzehnts, das
nicht falsch verstandener oder richtig nachgesprochener Busoni war. Und die
Lebenden? Schönberg? Strawinsky? (Um nicht auch von Bartok oder Casella
oder Pizzetti und— wieviel andern zu reden.) Schönbergs Zwölftonsystem stand
fest, abgeschlossen in allem Wesentlichen, lange bevor die Atonalen ihre neue
Heilslehre darauf gründeten. Strawinskys „Sacre du printemps", von ihnen als
Standardwerk reklamiert, war vor dem Krieg, 1913, vollendet (man kann auch
mit Dreißig schon Endgültiges schaffen), die „Noces villageoises" stammen aus
dem dritten Kriegsjahr, „Petruschka" ist so alt wie der „Rosenkavalier"; so alt
ist die Welt und Ideenwelt, aus der unsere revolutionäre und nachrevolutionäre
Kampfjugend ihre Waffen bezog.
Als bei uns von Strawinsky, gar vom „Sacre", noch nicht die Rede war, Berlin
ist nicht Paris, da war er längst bei der Soldatengeschichte, ohne die es Milhauds
Matrosenoper und auch sonst allerlei nicht gäbe, und bei „Pulcinella", auf die
alle modernen Versuche und Vorsätze, aus alter Musik neue Musik zu machen,
zurückgehen. Strawinsky ist immer längst woanders; seine Werke haben Zeit,
er hat keine. Schrecklich, wie er seinen Propheten mitspielt. Da haben sie also,
wie der Meister sie unterwiesen, unentwegt die Romantik überwunden, so beharr-
lich und so gründlich, daß keiner mehr weiß, was eigentlich Romantik ist; und
eines Tages kommt er ihnen mit einem hochromantischen Feenballett, und damit
nicht genug, wächst dieser „Baiser de la Fee" sich zu einer Ovation und Demon-
stration für Tschaikowsky aus — für Tschaikowsky, von dem eben noch bekannt
war, daß seine schändliche Melodienseligkeit für heutige Menschen, hart und
kalt wie wir sind, nicht zum Aushalten ist. Und da haben sie Bach neu entdeckt
und die reine Polyphonie und den fettlosen Klang und das Kammerorchestrale,
der neue Bach ist das Stahlbad, in dem sie sich vom Schlamm und Schleim des
straußisch-schrekerischen Überorchesters erholen... und dann kommt Schön-
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