MUSIK IN ENGLAND
Von
CECIL GRAY
Der häufigste und gebräuchlichste Vorwurf, den ausländische Kritik England
gegenüber erhebt, ist, daß es ein unmusikalisches Land sei; erst kürzlich gab
ein begabter deutscher Schriftsteller seinem Buch, das sich mit den verschiedenen
Aspekten des englischen Lebens beschäftigt, den herabsetzenden Titel „Das Land
ohne Musik". Die Annahme, daß England unmusikalisch sei, ist so tief
eingewurzelt und so allgemein verbreitet, daß ihre Gültigkeit in Frage zu stellen
ungefähr dasselbe bedeuten würde, wie die wohlbekannte und wissenschaftlich
begründete Tatsache anzuzweifeln, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Alles,
was man angesichts dieser einschüchternden Einmütigkeit der Weltmeinung
erhoffen kann, ist, im Geist des Lesers wenigstens den Verdacht zu erwecken,
daß möglicherweise Übertreibung und Vorurteil in dieser Ansicht stecken, die
man sich über Musik in England gebildet hat: daß, obgleich wir unmusikalisch,
wir doch nicht so unmusikalisch sind, wie man allgemein annimmt.
Der weitverbreitete Aberglaube von der musikalischen Inferiorität Englands
entspricht der relativen Position, die die Oper im nationalen Leben hier einnimmt,
verglichen mit ihrer Position in den meisten andern Ländern. In allen großen
Hauptstädten des Kontinents befindet sich das Opernhaus im Zentrum der Stadt
oder zum mindesten an einer prominenten Stelle in einer der Hauptverkehrs-
adern. In Paris und Wien, um nur zwei ersichtliche Beispiele zu nennen, hat man
den Eindruck, als sei die Stadt selbst rund um das Opernhaus gebaut worden,
wie um ein Zentrum, in das alle Straßen münden. In London ist, im Gegensatz
dazu, das Opernhaus ganz abseits vom Wege in einer Ecke versteckt, am Gemüse-
markt, einem finsteren und unzugänglichen Teil der Stadt. Dieser architektonische
Kontrast hat symbolische Bedeutung; denn während in Deutschland, Frankreich,
Italien und anderswo die Oper den Mittelpunkt darstellt — nicht nur des musi-
kalischen, sondern des künstlerischen Lebens schlechthin, wofür überdies der
Staat oder Magistrat gewöhnlich Riesensummen vergeudet — existiert in England
kaum eine Oper, abgesehen von einer kurzen, internationalen Saison von wenigen
Wochen zu Beginn des Sommers, die wahrscheinlich mehr von gesellschaftlicher
als künstlerischer Bedeutung ist. Kein Wunder also, daß die Musiker des Aus-
lands angesichts dieser Umstände zu dem Schluß gelangen, England sei ein
unmusikalisches Land. Der wahre Grund dieses Phänomens ist jedoch ganz ein-
fach der, daß der Engländer für die Oper keinen Sinn hat. Ob zu recht oder zu
unrecht — bei uns sieht der einfache Mann die Oper als lächerliche und unnatür-
liche Unterhaltungsform an, und sogar Musiker betrachten sie im allgemeinen als
gemein und degeneriert im Vergleich zu anderen Auswirkungen der Kunst.
Der ästhetische Mittelpunkt, in welchem sich Englands musikalisches Leben
konzentriert, ist also nicht die Oper wie in andern Ländern des Kontinents. Man
findet auch nicht, wie man natürlich annehmen könnte, das extreme Gegenteil,
d. h. eine Vorliebe für rein instrumentale Musik, trotz der Tatsache, daß in Bezug
auf Anzahl und Qualität seiner Orchester und auf die Menge des Publikums, das
diese Konzerte besucht, England nicht ungünstig abschneidet im Vergleich zu
2
227
Von
CECIL GRAY
Der häufigste und gebräuchlichste Vorwurf, den ausländische Kritik England
gegenüber erhebt, ist, daß es ein unmusikalisches Land sei; erst kürzlich gab
ein begabter deutscher Schriftsteller seinem Buch, das sich mit den verschiedenen
Aspekten des englischen Lebens beschäftigt, den herabsetzenden Titel „Das Land
ohne Musik". Die Annahme, daß England unmusikalisch sei, ist so tief
eingewurzelt und so allgemein verbreitet, daß ihre Gültigkeit in Frage zu stellen
ungefähr dasselbe bedeuten würde, wie die wohlbekannte und wissenschaftlich
begründete Tatsache anzuzweifeln, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Alles,
was man angesichts dieser einschüchternden Einmütigkeit der Weltmeinung
erhoffen kann, ist, im Geist des Lesers wenigstens den Verdacht zu erwecken,
daß möglicherweise Übertreibung und Vorurteil in dieser Ansicht stecken, die
man sich über Musik in England gebildet hat: daß, obgleich wir unmusikalisch,
wir doch nicht so unmusikalisch sind, wie man allgemein annimmt.
Der weitverbreitete Aberglaube von der musikalischen Inferiorität Englands
entspricht der relativen Position, die die Oper im nationalen Leben hier einnimmt,
verglichen mit ihrer Position in den meisten andern Ländern. In allen großen
Hauptstädten des Kontinents befindet sich das Opernhaus im Zentrum der Stadt
oder zum mindesten an einer prominenten Stelle in einer der Hauptverkehrs-
adern. In Paris und Wien, um nur zwei ersichtliche Beispiele zu nennen, hat man
den Eindruck, als sei die Stadt selbst rund um das Opernhaus gebaut worden,
wie um ein Zentrum, in das alle Straßen münden. In London ist, im Gegensatz
dazu, das Opernhaus ganz abseits vom Wege in einer Ecke versteckt, am Gemüse-
markt, einem finsteren und unzugänglichen Teil der Stadt. Dieser architektonische
Kontrast hat symbolische Bedeutung; denn während in Deutschland, Frankreich,
Italien und anderswo die Oper den Mittelpunkt darstellt — nicht nur des musi-
kalischen, sondern des künstlerischen Lebens schlechthin, wofür überdies der
Staat oder Magistrat gewöhnlich Riesensummen vergeudet — existiert in England
kaum eine Oper, abgesehen von einer kurzen, internationalen Saison von wenigen
Wochen zu Beginn des Sommers, die wahrscheinlich mehr von gesellschaftlicher
als künstlerischer Bedeutung ist. Kein Wunder also, daß die Musiker des Aus-
lands angesichts dieser Umstände zu dem Schluß gelangen, England sei ein
unmusikalisches Land. Der wahre Grund dieses Phänomens ist jedoch ganz ein-
fach der, daß der Engländer für die Oper keinen Sinn hat. Ob zu recht oder zu
unrecht — bei uns sieht der einfache Mann die Oper als lächerliche und unnatür-
liche Unterhaltungsform an, und sogar Musiker betrachten sie im allgemeinen als
gemein und degeneriert im Vergleich zu anderen Auswirkungen der Kunst.
Der ästhetische Mittelpunkt, in welchem sich Englands musikalisches Leben
konzentriert, ist also nicht die Oper wie in andern Ländern des Kontinents. Man
findet auch nicht, wie man natürlich annehmen könnte, das extreme Gegenteil,
d. h. eine Vorliebe für rein instrumentale Musik, trotz der Tatsache, daß in Bezug
auf Anzahl und Qualität seiner Orchester und auf die Menge des Publikums, das
diese Konzerte besucht, England nicht ungünstig abschneidet im Vergleich zu
2
227