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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 4
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Balázs, Béla: Abschied vom stummen Film
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0383
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Aber „wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht?" wird wahrschein-
lich der Grundgedanke des nächsten Tonfilms sein. Es ist doch ein Anfang, der
hier ein Ende gemacht hat. Es ist ein Weg, der hier einen Weg verstellt.
Eine neue Entwicklung hat eine ältere unterbunden. (Einstweilen.)
Nur Philister bedauern oder rümpfen die Nase, anstatt einzugreifen.
War die Entwicklung des stummen Films noch lange nicht vollendet? Es muß
nicht alles vollendet werden. Nicht auf die Werke, sondern auf den Menschen
kommt es letzten Endes an. Der Mensch fährt aber nicht jede Strecke bis zur
Endstation. Er steigt oft um auf seiner Fahrt. Bitte umsteigen! Tonfilm!
Nein, es ist nicht so schlimm, wie man annehmen könnte. Auch die Kinemato-
graphie hat mit blödsinniger Primitivität begonnen. Denkt der ersten stummen
Filme und ihr werdet Optimisten. Warum kommt uns der Operettenkitsch der
ersten Tonfilme so grauenhaft vor? Weil der so schnell entwickelte stumme Film
uns inzwischen verwöhnt hat. Wir messen Filmwerte schon mit ihrem eigenen
hohen Maßstab. Daß wir die heutigen Tonfilme so kitschig finden, kommt daher,
daß wir sie uns bereits als hohe Kunst vorstellen können.
Und dann kommt es auch. Denn die technische Möglichkeit ist die wirksamste
Inspiration. Der Apparat ist die Muse. Nicht die Bildhauer haben Hammer und
Meißel erfunden. Aber das Werkzeug hat sie zu einer besonderen Art der Ver-
wendung angeregt. In der Geschichte der Kunst erschien jede „Maschine" zuerst
als das seelenlose Prinzip. Aber der Mensch assimiliert sich die Maschine bald zu
einem Organ. Sie wird zu seinen Fingerspitzen. Spricht heute noch jemand von
mechanischer Fotografie, von der seelenlosen Kamera? Auch die Tonkamera wird
es schaffen.
Das Technische am ehesten. Zu den Technikern haben wir restloses Vertrauen.
Morgen wird jeder Ton schon richtig kommen. Aber der Text! - -Ist es
nicht auffallend, daß man in Deutschland zur Zeit meist Tonfilmlustspiele macht?
Es ist ein Zeugnis für die Kultur der Deutschen. Im Scherz, im Witz vertragen sie
noch diesen Grad der Trivialität, den man im Ernst nur Amerikanern zu-
muten kann.
Es mußte gar nicht Chaplin oder Asta Nielsen persönlich gewesen sein. Ein
gefühltes Lächeln, ein gefühlter Blick enthielt immer etwas Unsagbares. Wehe,
jetzt wird es gesagt. Welche Demaskierung! Die besten Dichter müßten heran, um
die Poesie des mimischen Dialogs zu ersetzen. Jetzt werdet ihr es erst lernen, die
Schauspieler zu schätzen, jetzt, wo sie nicht mehr nur mit ihrer ureigensten Sprache,
sondern mit den hörbaren Worten der Autoren sprechen müssen.
Aber auch das kommt noch. Dichter werden mit dem Mikrophon im Herzen
die zartesten Töne der Lebensmusik erlauschen und in ihren Tongroßaufnahmen
wird es zwischen den Tönen erklingen, wie auch in ihren Schriften das Feinste
zwischen den Zeilen zu lesen war. Sie werden verborgen Beziehungen zwischen
Gestalten und Tönen finden, die uns noch nicht bewußt sind. Und wir werden
hören lernen, wie wir durch den optischen Film sehen gelernt haben. Und wir
werden im Ton Wesen erkennen, so wie wir es in Gestalt und Gesicht erkennen.
Aber nun will ich das „Problem" verraten, das den Ästhetikern und Kunst-
philosophen die meisten Sorgen bereiten wird. Ein Problem, das mit keiner
technischen Vollendung gelöst werden kann.

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