DER CHARAKTERSCHAUSPIELER
Von
ERNEST THESIGER (London)
Aufgabe des Schauspielers ist es, aus dem vom Autor gelieferten Material
einen Charakter zu formen, der in den Augen und Hirnen der Zuschauer
lebt und dabei den unverkennbaren Stempel des Schauspielers trägt. Denn man
darf nicht glauben, daß der Autor der Schöpfer dieses Charakters ist — niemand
würde davon Notiz nehmen. Vom Schauspieler aber spricht man, von seiner
Gestaltung der Rolle: Die Figur eines Stückes hat also zwei Eltern.
Die Tatsache, daß der Schauspieler aus einer großen eine schlechte Rolle
machen kann, ist ein Beweis dafür, daß der Schauspieler das letzte Wort in dieser
Sache zu sprechen hat. Wie ein Stück nur halbes Leben hat, wenn es gelesen und
nicht aufgeführt wird, so geht es auch der Rolle oder dem Charakter dieses
Stückes. Die meisten Theaterstücke von Bernard Shaw machen beim Lesen
genau so viel Spaß wie auf der Bühne, und zwar aus dem Grunde, weil er ein
bedeutender Schriftsteller, aber kein bedeutender Dramatiker ist. Ibsens Werke
dagegen sind häufig unverständlich, wenn man sie nicht auf der Bühne sieht,
wo sie, bei einer guten Aufführung, klar und durchsichtig werden; was ein Beweis
dafür ist, daß Ibsen ein großer Dramatiker, und sein Medium — anders als bei
Shaw — ganz und gar das Theater war.
Da also dem Schauspieler die wichtige Aufgabe zufällt, die Absichten des
Autors auszudeuten, so geziemt es ihm, sich seiner Rolle mit Ehrfurcht zu nähern
(im Bewußtsein seiner Verantwortung), und mit Stolz (im Bewußtsein seiner
Macht). Er muß mit der Figur genau so vertraut sein — wenn nicht sogar noch
viel intimer — wie der Autor selbst. Er muß von der Erscheinung und Men-
talität des Mannes, den er darstellt, eine unabweisbare und vollkommene Vor-
stellung haben. Dann wird er die Rolle so restlos in sich aufnehmen, daß die
Wiedergabe — die erforderliche technische Beherrschung vorausgesetzt —
automatisch erfolgt. Stimme, Bewegungen und Modulation sind dann nicht
mehr das Resultat eines oberflächlichen Studiums, sondern einer unterbewußten
Vertrautheit mit dem Wesen, das er sich zu eigen gemacht hat. Der Repertoire-
Schauspieler, dem nur wenig Zeit zum Studium seiner Rolle zur Verfügung steht,
hat natürlich nicht die Muße, sich in diese Gestalt zu versenken. Er begnügt sich
gewöhnlich damit, ein paar oberflächliche Allüren anzunehmen, die nach seiner
Ansicht zu dem Typ Mann passen, den er imitiert. Fast alle Repertoire-Schauspieler
haben ihr bestimmtes System, nach dem sie alte Männer, junge Männer, Helden
oder Schurken spielen. Sie haben die verschiedenen Schablonen vorrätig, genau
so wie einen Schub voll Perücken. Das Ergebnis ist entsprechend: von Inspiration
keine Spur.
Der echte Künstler unterliegt einer so starken Selbsthypnose, daß er für die
kurze Zeit des Spiels ein anderes, zweites Wesen annimmt, das der Phantasie
des Autors entsprang, dem aber seine Kunst erst den Ausdruck verleiht. Doch
muß er gleichzeitig darauf achten, daß er sich in der Rolle nicht verliert und ihn
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Von
ERNEST THESIGER (London)
Aufgabe des Schauspielers ist es, aus dem vom Autor gelieferten Material
einen Charakter zu formen, der in den Augen und Hirnen der Zuschauer
lebt und dabei den unverkennbaren Stempel des Schauspielers trägt. Denn man
darf nicht glauben, daß der Autor der Schöpfer dieses Charakters ist — niemand
würde davon Notiz nehmen. Vom Schauspieler aber spricht man, von seiner
Gestaltung der Rolle: Die Figur eines Stückes hat also zwei Eltern.
Die Tatsache, daß der Schauspieler aus einer großen eine schlechte Rolle
machen kann, ist ein Beweis dafür, daß der Schauspieler das letzte Wort in dieser
Sache zu sprechen hat. Wie ein Stück nur halbes Leben hat, wenn es gelesen und
nicht aufgeführt wird, so geht es auch der Rolle oder dem Charakter dieses
Stückes. Die meisten Theaterstücke von Bernard Shaw machen beim Lesen
genau so viel Spaß wie auf der Bühne, und zwar aus dem Grunde, weil er ein
bedeutender Schriftsteller, aber kein bedeutender Dramatiker ist. Ibsens Werke
dagegen sind häufig unverständlich, wenn man sie nicht auf der Bühne sieht,
wo sie, bei einer guten Aufführung, klar und durchsichtig werden; was ein Beweis
dafür ist, daß Ibsen ein großer Dramatiker, und sein Medium — anders als bei
Shaw — ganz und gar das Theater war.
Da also dem Schauspieler die wichtige Aufgabe zufällt, die Absichten des
Autors auszudeuten, so geziemt es ihm, sich seiner Rolle mit Ehrfurcht zu nähern
(im Bewußtsein seiner Verantwortung), und mit Stolz (im Bewußtsein seiner
Macht). Er muß mit der Figur genau so vertraut sein — wenn nicht sogar noch
viel intimer — wie der Autor selbst. Er muß von der Erscheinung und Men-
talität des Mannes, den er darstellt, eine unabweisbare und vollkommene Vor-
stellung haben. Dann wird er die Rolle so restlos in sich aufnehmen, daß die
Wiedergabe — die erforderliche technische Beherrschung vorausgesetzt —
automatisch erfolgt. Stimme, Bewegungen und Modulation sind dann nicht
mehr das Resultat eines oberflächlichen Studiums, sondern einer unterbewußten
Vertrautheit mit dem Wesen, das er sich zu eigen gemacht hat. Der Repertoire-
Schauspieler, dem nur wenig Zeit zum Studium seiner Rolle zur Verfügung steht,
hat natürlich nicht die Muße, sich in diese Gestalt zu versenken. Er begnügt sich
gewöhnlich damit, ein paar oberflächliche Allüren anzunehmen, die nach seiner
Ansicht zu dem Typ Mann passen, den er imitiert. Fast alle Repertoire-Schauspieler
haben ihr bestimmtes System, nach dem sie alte Männer, junge Männer, Helden
oder Schurken spielen. Sie haben die verschiedenen Schablonen vorrätig, genau
so wie einen Schub voll Perücken. Das Ergebnis ist entsprechend: von Inspiration
keine Spur.
Der echte Künstler unterliegt einer so starken Selbsthypnose, daß er für die
kurze Zeit des Spiels ein anderes, zweites Wesen annimmt, das der Phantasie
des Autors entsprang, dem aber seine Kunst erst den Ausdruck verleiht. Doch
muß er gleichzeitig darauf achten, daß er sich in der Rolle nicht verliert und ihn
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