Leider war das Moskauer Künstler-Theater bei dieser Arbeitsmethode nicht
imstande, mehr als zwei oder drei Inszenierungen im Jahr herauszubringen. Da-
durch ergab sich die Tatsache, daß die große Masse der Jugend abseits vom großen
Fest der Kunst stand, ohne Hoffnung mitzuwirken und dessen Freude mit jenen
wenigen, die die eigentlichen Schöpfer dieses Festes waren, bis zur Neige auszu-
kosten. Und das war die Elite des Bühnennachwuchses, die Besten aus allen Teilen
Rußlands, die hier nicht einmal die Möglichkeit hatten, Schüler zu sein. Das war
für viele eine Tragödie.
Dessenungeachtet war das Moskauer Künstler-Theater ein wahrhaftiges Fest
der Kunst. Wie einzigartig waren die Tschechowschen Aufführungen, durch-
drungen von Feinheit und Wahrhaftigkeit! Wie farbenvoll und festlich wurden
die Massenszenen inszeniert, wie zum Beispiel die Hungerszenen aus „Brand",
der Jahrmarkt aus „Lebensdrama" und, vor allem, die Ballszene aus „Verstand
bringt Leid" von Gribojedow, die mir besonders tief im Gedächtnis haften
geblieben ist. Ich werde nie meine Eindrücke von der Mitwirkung an dieser Szene
vergessen. Richtige Zimmer — für die Zuschauer unsichtbar — waren als Vor-
räume zum Hauptsaal aufgebaut, in dem der eigentliche Ball stattfand. Die Dar-
steller der Gäste mußten, bevor sie zur Bühne gelangten, diese unsichtbaren Zim-
mer passieren, wo sie von Lakaien mit richtigen Verbeugungen empfangen wurden
— für die Zuschauer ebenfalls unsichtbar. Ich kann mich noch meines ersten Auf-
tretens entsinnen, als ich all die Gänge passiert und endlich die Bühne erreicht hatte
— und mit einemmal die Empfindung hatte, mitten in einem Ball zu sein, wie er
vor hundert Jahren gewesen sein konnte. Ich sah mich inmitten einer Schar vor-
nehmer, elegant gekleideter Gäste, französische Konversation plätscherte hell
dahin, man konnte nicht umhin, von der Schönheit der Frauenschultern und der
Pracht ihrer Toiletten entzückt zu sein. Es war ein Genuß, auf Diwans aus echtem
Mahagoni, inmitten von Parfümwogen zu sitzen und schöne echte Holzschnitte
an den Wänden zu betrachten. Nur daß kein Sekt da war — hierin war das Mos-
kauer Künstler-Theater nicht bis ans Ende konsequent. Aber — ich trug einen
ausgezeichnet sitzenden, extra angefertigten Anzug aus echtem Stoff, seidene
Trikotwäsche, die wir ebenfalls vom Theater erhalten hatten; Stanislawski emp-
fahl uns, uns zu parfümieren, und wir waren gezwungen, uns auf der Bühne mit-
einander französisch zu unterhalten.
Ebenso bemerkenswert war die Aufführung des Ibsenschen „Brand". Ich
hatte darin den zweiten Boten der sterbenden Mutter an Brand zu spielen. Der
Schauplatz dieser Szene war ein Gebirge. Nach den Regeln des Moskauer Künstler-
Theaters gelangte der Darsteller erst fünf Minuten vor seinem Auftritt auf die
Bühne. Bis dahin mußte er auf dem Absatz der Treppe, die von den Garderoben
zur Bühne führte, hinter einer schalldichten Wand warten. Das Auftrittszeichen
gab das Aufflammen eines roten Lämpchens. Dann öffnete sich geräuschlos eine
eiserne Tür — und der Schauspieler befand sich in absoluter Stille, manchmal
auch in voller Dunkelheit. In dieser Szene konnte ich das Rieseln des Platzregens
hören, das Heulen der Wasserfälle, und ab und zu das Getöse einer ins Tal stürzen-
den und alles niederreißenden Lawine. All das war so realistisch, daß ich wie im
Fieber zitterte.
(Deutsch von Eugen W. Meves)
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imstande, mehr als zwei oder drei Inszenierungen im Jahr herauszubringen. Da-
durch ergab sich die Tatsache, daß die große Masse der Jugend abseits vom großen
Fest der Kunst stand, ohne Hoffnung mitzuwirken und dessen Freude mit jenen
wenigen, die die eigentlichen Schöpfer dieses Festes waren, bis zur Neige auszu-
kosten. Und das war die Elite des Bühnennachwuchses, die Besten aus allen Teilen
Rußlands, die hier nicht einmal die Möglichkeit hatten, Schüler zu sein. Das war
für viele eine Tragödie.
Dessenungeachtet war das Moskauer Künstler-Theater ein wahrhaftiges Fest
der Kunst. Wie einzigartig waren die Tschechowschen Aufführungen, durch-
drungen von Feinheit und Wahrhaftigkeit! Wie farbenvoll und festlich wurden
die Massenszenen inszeniert, wie zum Beispiel die Hungerszenen aus „Brand",
der Jahrmarkt aus „Lebensdrama" und, vor allem, die Ballszene aus „Verstand
bringt Leid" von Gribojedow, die mir besonders tief im Gedächtnis haften
geblieben ist. Ich werde nie meine Eindrücke von der Mitwirkung an dieser Szene
vergessen. Richtige Zimmer — für die Zuschauer unsichtbar — waren als Vor-
räume zum Hauptsaal aufgebaut, in dem der eigentliche Ball stattfand. Die Dar-
steller der Gäste mußten, bevor sie zur Bühne gelangten, diese unsichtbaren Zim-
mer passieren, wo sie von Lakaien mit richtigen Verbeugungen empfangen wurden
— für die Zuschauer ebenfalls unsichtbar. Ich kann mich noch meines ersten Auf-
tretens entsinnen, als ich all die Gänge passiert und endlich die Bühne erreicht hatte
— und mit einemmal die Empfindung hatte, mitten in einem Ball zu sein, wie er
vor hundert Jahren gewesen sein konnte. Ich sah mich inmitten einer Schar vor-
nehmer, elegant gekleideter Gäste, französische Konversation plätscherte hell
dahin, man konnte nicht umhin, von der Schönheit der Frauenschultern und der
Pracht ihrer Toiletten entzückt zu sein. Es war ein Genuß, auf Diwans aus echtem
Mahagoni, inmitten von Parfümwogen zu sitzen und schöne echte Holzschnitte
an den Wänden zu betrachten. Nur daß kein Sekt da war — hierin war das Mos-
kauer Künstler-Theater nicht bis ans Ende konsequent. Aber — ich trug einen
ausgezeichnet sitzenden, extra angefertigten Anzug aus echtem Stoff, seidene
Trikotwäsche, die wir ebenfalls vom Theater erhalten hatten; Stanislawski emp-
fahl uns, uns zu parfümieren, und wir waren gezwungen, uns auf der Bühne mit-
einander französisch zu unterhalten.
Ebenso bemerkenswert war die Aufführung des Ibsenschen „Brand". Ich
hatte darin den zweiten Boten der sterbenden Mutter an Brand zu spielen. Der
Schauplatz dieser Szene war ein Gebirge. Nach den Regeln des Moskauer Künstler-
Theaters gelangte der Darsteller erst fünf Minuten vor seinem Auftritt auf die
Bühne. Bis dahin mußte er auf dem Absatz der Treppe, die von den Garderoben
zur Bühne führte, hinter einer schalldichten Wand warten. Das Auftrittszeichen
gab das Aufflammen eines roten Lämpchens. Dann öffnete sich geräuschlos eine
eiserne Tür — und der Schauspieler befand sich in absoluter Stille, manchmal
auch in voller Dunkelheit. In dieser Szene konnte ich das Rieseln des Platzregens
hören, das Heulen der Wasserfälle, und ab und zu das Getöse einer ins Tal stürzen-
den und alles niederreißenden Lawine. All das war so realistisch, daß ich wie im
Fieber zitterte.
(Deutsch von Eugen W. Meves)
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