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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 5
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Illing, Werner: Chemie von Chemnitz
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0448

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genösse gerne hört: Tempo. In dieser Stunde der Barkarole erfreut nicht
selten den Chemnitzer das sanfte Gezwitscher von Ventilpfeifen. Sechsrädrige
Aussichtswagen, verziert mit den Hoheitszeichen des Staates, teilen in maje-
stätischer Ruhe das civile Gewimmel. Eine halbe Hundertschaft Schupo, Kara-
biner bei Sitz, den Blick stramm in die Zukunft gerichtet, fährt spazieren und
beteiligt sich am Korso der Arbeit.
Werktagsreize, wenn die Traktoren mammuthafte Rollwagen nach sich
ziehen, auf denen hauslange und meterhohe Überseekisten die ersten zwei oder
drei Kilometer ihrer Reise um den Erdball zurücklegen. Drehbänke, Fräs-
maschinen und Webstühle darf man als Inhalt ahnen. Anders wird die leichte
Ware verfrachtet. Erschrick nicht, Fremdling, wenn plötzlich aus den Parterre-
fenstern ehrbarer Bürgerhäuser über deinen Kopf hinweg gelbgraue Bündel von
Trikotagen fliegen, die von geschickten Männern aus der Luft gehascht und im
Rücksitz von Limousinen verstaut werden, bis der ganze Innenraum mit natur-
farbener Faser ausgefüllt ist. Was Sonntags dem Fabrikanten und seiner Familie
recht ist, muß wochentags den Rohstrümpfen, die sich danach sehnen, gefärbt,
gepreßt und merzerisiert zu werden, billig sein ... auch spart man den Liefer-
wagen. Übrigens Rohstrümpfe: sie sehen aus wie schrumplige Wursthäute ohne
Fülle. Von sex appeal keine Spur.
Die Schornsteine, die über Chemnitz rauchen (und das tun sie, by Jove!),
stehen zumeist über Schmiedefeuern. Der sächsische Maschinenbau hat hier sein
mächtiges Zentrum. Strümpfe, Schlüpfer, Handschuhe wachsen vorwiegend am
Rand der endlosen Straßendörfer, die sich in den Geländefalten des Erzgebirges
entlangziehen. Wendische Fachwerkhäuschen wechseln mit gitterfenstrigen
Fabrikfronten. Wer die Formen des Fabrikbaus im Verlauf des vergangenen
Jahrhunderts studieren will, wird bald seinen Katalog beisammen haben. Man
findet noch jene berüchtigten Brutstätten der Tuberkolose, in denen Frauen und
Kinder in sechzehnstündiger Arbeitszeit die Spindeln drehen mußten. Kulissen-
hafte Schloßfassaden mit klassischen Halbsäulen bis unters siebenstöckige Dach,
dazwischen Gefängnisluken als Fenster. Findet überwiegend die grauen Fabrik-
kasernen der Jahrhundertwende und gelegentlich einen aus diesem Rahmen
fallenden modernen Zweckbau der Arbeit, der sich schon von außen so material-
echt, hell und hygienisch präsentiert, daß man meint, höchstes Glück der Erden-
kinder müsse sein, in seinen Sälen Rundstrickmaschinen zu bedienen. (Es müßte
allerdings die Stunde mit zehn Mark entlohnt werden.)
Im ganzen stellen diese Industriedörfer, was Trostlosigkeit und Verkümmerung
der Lebensfreude anlangt, ein Gegenstück zum Borinage dar. Das Grauen wohnt
hier und noch viel Heimindustrie. Um den Vergleich noch näher zu rücken,
schieben sich wenige Kilometer südwestlich der Stadt die ersten Schachthalden
und Fördertürme des Lugau-Ölsnitzer Steinkohlenreviers zwischen die Textil-
plantagen.
*
Chemnitz war jahrhundertelang ein bescheidener und historisch bedeutungs-
loser Pilzkeimling, der plötzlich im feuchtwarmen Klima der Gründerzeit zu
schießen begann. Das Bedürfnis nach Wohnraum wurde damals notdürftig
erfüllt, nach Architektur bestand kein Verlangen. Die Sünden billig bauender

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