Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0484
DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:Maurois, André: Die sexuelle Moral um 1950
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0484
DIE SEXUELLE MORAL UM 1950
Fragment einer 1992 durch die Universität .
veröffentlichten Weltgeschichte
Mitgeteilt von ANDRE MAUROIS
Kapitel CXLIV
Die Sitten — Puritanismus und Verdrängung — Die Freudsche Lehre und ihr Einfluß —
Erfolg und Verirrung der Ereudschen Theorie (1930 — 1940) — Erste Anzeichen
einer Reaktion (1940 —1940) — Der Schmidtismus — Erfolg des Schmidtismus —
Umwertung der Werte
DIE SEXUELLE MORAL ZU BEGINN DES XX. JAHRHUNDERTS.
Vor dem Weltkriege 1914 befand sich die offizielle Moral (vornehmlich in
den angelsächsischen Ländern) auf dem gleichen Stand wie im vorangegangenen
Jahrhundert. Gewiß hatten Schriftsteller wie Wells, Arnold Bennett, George
Moore, Galsworthy versucht, sexuelle Fragen etwas freier zu behandeln als die
Romanciers der victorianischen Epoche. In den Großstädten herrschten zwar
ziemlich freie Sitten, aber diese Freiheit erstreckte sich nicht auf die Mittel-
klassen, und selbst in aristokratischen und künstlerischen Milieus wurde sie nicht
gebilligt. In Amerika sowohl wie in England war das Puritanertum immer noch
mächtig genug, um das Leben eines Staatsmannes durch einen Skandal zu zer-
stören. Natürlich gab es Laster wie immer in jeder menschlichen Gesellschaft,
aber die Laster mußten sich, um geduldet zu werden, hinter der Maske der
Heuchelei und die Sprache der Tugend verstecken.
DIE FREUDSCHE LEHRE UND IHR EINFLUSS.
So nahm das menschliche Wesen, von einer starren Gesellschaft in Schranken
gehalten, merkwürdige und gefährliche Rache. Die „verdrängten" Wünsche
(wie es später hieß) flüchteten ins Unterbewußtsein und richteten dort ernstliche
Störungen an. Schon ein alter Prophet des achtzehnten Jahrhunderts, William
Blake, hatte gesagt: "He who desires but acts not, breeds pestilence". Diese
Pestilenz trat in Form von nervösen Krankheiten, von Wahnsinn zutage und
schuf vor allem eine Atmosphäre von allgemeiner Langeweile, Pessimismus und
Unruhe, die vielleicht eine der geheimen Ursachen des Weltkrieges 1914 war. —-
Es soll hier nicht die Freudsche Lehre erklärt werden, es ist ja bekannt, wie der
große östereichische Arzt und Psychologe bewiesen hat, daß solche Verdrän-
gungen den Anfang der meisten nervösen Krankheiten bilden. Diese Lehre hatte
in romanischen Ländern weniger großen Erfolg, weil sie von jeher eine
gewisse sexuelle Freiheit genossen hatten, das Übel nicht kannten und folglich
keine Heilmittel benötigten. Aber für die germanischen und vornehmlich für die
angelsächsischen Länder war diese Lehre eine Befreiung. Jetzt war es endlich
erlaubt und unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Sprache leicht
möglich, frei über Dinge zu reden, die seit mehreren Jahrhunderten verboten
waren. Die Psychoanalyse verbreitete sich ungeheuer und enthüllte einer großen
Anzahl aufrichtiger Puritaner das Bild ihrer wirklichen Seele, so wurden sie
nachsichtiger gegenüber den Wünschen anderer. Die Ärzte hielten es für ihre
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Fragment einer 1992 durch die Universität .
veröffentlichten Weltgeschichte
Mitgeteilt von ANDRE MAUROIS
Kapitel CXLIV
Die Sitten — Puritanismus und Verdrängung — Die Freudsche Lehre und ihr Einfluß —
Erfolg und Verirrung der Ereudschen Theorie (1930 — 1940) — Erste Anzeichen
einer Reaktion (1940 —1940) — Der Schmidtismus — Erfolg des Schmidtismus —
Umwertung der Werte
DIE SEXUELLE MORAL ZU BEGINN DES XX. JAHRHUNDERTS.
Vor dem Weltkriege 1914 befand sich die offizielle Moral (vornehmlich in
den angelsächsischen Ländern) auf dem gleichen Stand wie im vorangegangenen
Jahrhundert. Gewiß hatten Schriftsteller wie Wells, Arnold Bennett, George
Moore, Galsworthy versucht, sexuelle Fragen etwas freier zu behandeln als die
Romanciers der victorianischen Epoche. In den Großstädten herrschten zwar
ziemlich freie Sitten, aber diese Freiheit erstreckte sich nicht auf die Mittel-
klassen, und selbst in aristokratischen und künstlerischen Milieus wurde sie nicht
gebilligt. In Amerika sowohl wie in England war das Puritanertum immer noch
mächtig genug, um das Leben eines Staatsmannes durch einen Skandal zu zer-
stören. Natürlich gab es Laster wie immer in jeder menschlichen Gesellschaft,
aber die Laster mußten sich, um geduldet zu werden, hinter der Maske der
Heuchelei und die Sprache der Tugend verstecken.
DIE FREUDSCHE LEHRE UND IHR EINFLUSS.
So nahm das menschliche Wesen, von einer starren Gesellschaft in Schranken
gehalten, merkwürdige und gefährliche Rache. Die „verdrängten" Wünsche
(wie es später hieß) flüchteten ins Unterbewußtsein und richteten dort ernstliche
Störungen an. Schon ein alter Prophet des achtzehnten Jahrhunderts, William
Blake, hatte gesagt: "He who desires but acts not, breeds pestilence". Diese
Pestilenz trat in Form von nervösen Krankheiten, von Wahnsinn zutage und
schuf vor allem eine Atmosphäre von allgemeiner Langeweile, Pessimismus und
Unruhe, die vielleicht eine der geheimen Ursachen des Weltkrieges 1914 war. —-
Es soll hier nicht die Freudsche Lehre erklärt werden, es ist ja bekannt, wie der
große östereichische Arzt und Psychologe bewiesen hat, daß solche Verdrän-
gungen den Anfang der meisten nervösen Krankheiten bilden. Diese Lehre hatte
in romanischen Ländern weniger großen Erfolg, weil sie von jeher eine
gewisse sexuelle Freiheit genossen hatten, das Übel nicht kannten und folglich
keine Heilmittel benötigten. Aber für die germanischen und vornehmlich für die
angelsächsischen Länder war diese Lehre eine Befreiung. Jetzt war es endlich
erlaubt und unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Sprache leicht
möglich, frei über Dinge zu reden, die seit mehreren Jahrhunderten verboten
waren. Die Psychoanalyse verbreitete sich ungeheuer und enthüllte einer großen
Anzahl aufrichtiger Puritaner das Bild ihrer wirklichen Seele, so wurden sie
nachsichtiger gegenüber den Wünschen anderer. Die Ärzte hielten es für ihre
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