Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0489
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Heft 5
DOI article:Maurois, André: Die sexuelle Moral um 1950
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Pflicht, ihre Kranken von den Verdrängungen zu befreien, die sie zum Wahnsinn
führen konnten und spornten zu einer gewissen Kühnheit und Freiheit der Sitten
an. Seit 1928 bewiesen Schriftsteller wie Joyce und D. H. Lawrence eine Groß-
zügigkeit, die dem Leser von 1940 zwar als ziemlich schüchterner Versuch er-
scheint, die aber damals durchaus neu war. Das physische Schamgefühl verschwin-
det zusammen mit dem verbalen und intellektuellen Schamgefühl. Die Frauen
entblößten sich immer mehr. 1935 sah man in zahlreichen amerikanischen wie
europäischen Badeorten gänzlich nackte Männer und Frauen. In Deutschland
und in den skandinavischen Ländern wuchsen die Vereine für Nacktkultur.
Die Indulgenz sexueller Freiheit und sogar Anomalien gegenüber wurde allgemein.
VERIRRUNG UND EXZESSE (193o—194o).
Die menschlichen Sitten gehorchen den Bewegungen der Wage und schlagen
immer über die Mittellage hinaus. Der Einfluß der Freudschen Theorie war
zunächst wohltuend gewesen. Es schien wahr zu sein, daß übertriebene Strenge
der geistigen und körperlichen Gesundheit der Menschen schadete, die weder
Heilige noch Impotente waren. Tatsächlich nahm die Zahl der Geisteskranken
in Europa sowohl wie in Amerika seit 1930 ab. Aber bald wurden unter dem
Vorwand, den Wünschen eines jeden gerecht zu werden, alle sozialen Bindungen
und Kontakte gelöst. Die frühere Ehe wurde durch die Scheidung, die man nur
anzumelden brauchte, durch die Junggesellenwirtschaft, durch den Verzicht
auf Kinder vollständig zerstört. In der victorianischen Zeit hatte die Sitten-
strenge harmlosen Vergnügen einen gewissen Reiz verliehen. Im neunzehnten
Jahrhundert fand sich die männliche und weibliche Jugend zu unschuldigen
Spielen, zu Sport und zum Studium zusammen. Seit 1935 bekamen die meisten
Zusammenkünfte ausschweifenden Charakter. Die öffentliche Meinung hatte sich
derart verändert, daß in England, dem ehemals sittenstrengen Land, der Anti-
Puritanismus eine Tugend geworden war. Er war zwar nicht durch das Gesetz
vorgeschrieben, aber er gelangte allgemein zur Anwendung, und die sozialen
Sanktionen waren unerbittlich. 1954 mußte der sozialistische Premierminister
zurücktreten, weil man ihn der ehelichen Treue verdächtigte. Er hatte zur Zeit
das Gesetz der „obligatorischen Psychoanalyse in den Kindergärten" durch-
gebracht. Man beschuldigte ihn der Hypokrisie. Eine Reihe großer europäischer
Zeitungen begann eine Kampagne, um zu beweisen, die sexuelle Freiheit Eng-
lands sei nur vorgetäuscht, es verstecke sich dort in Wahrheit hinter freien Reden
und freier Literatur manch keusches Leben. Die Beschuldigung war falsch, aber
der Fanatismus der „Freien" war ins Maßlose gewachsen.
ERSTE ANZEICHEN EINER REAKTION (194o—1950).
So ungefähr um das Jahr 1940 stieg die Kurve der Geisteskrankheiten mit
ziemlicher Schnelligkeit. Für uneingeweihte Beobachter mußte es den Anschein
erwecken, als bedeute dieses Symptom den Zusammenbruch der neuen Moral.
Aber die „Freien" forderten, unduldsam und blind wie sie waren, noch neue
Freizügigkeiten dazu. Dennoch machten sich langsam aber sicher Anzeichen einer
Reaktion bemerkbar. 1942 erschien ohne Namensnennung ein merkwürdiges
Buch: „Beichte eines Kindes des neuen Jahrhunderts", es enthüllte mit naivem Scham-
gefühl die Verwirrung, das Bedürfnis nach Sentimentalität der jungen Generatio-
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führen konnten und spornten zu einer gewissen Kühnheit und Freiheit der Sitten
an. Seit 1928 bewiesen Schriftsteller wie Joyce und D. H. Lawrence eine Groß-
zügigkeit, die dem Leser von 1940 zwar als ziemlich schüchterner Versuch er-
scheint, die aber damals durchaus neu war. Das physische Schamgefühl verschwin-
det zusammen mit dem verbalen und intellektuellen Schamgefühl. Die Frauen
entblößten sich immer mehr. 1935 sah man in zahlreichen amerikanischen wie
europäischen Badeorten gänzlich nackte Männer und Frauen. In Deutschland
und in den skandinavischen Ländern wuchsen die Vereine für Nacktkultur.
Die Indulgenz sexueller Freiheit und sogar Anomalien gegenüber wurde allgemein.
VERIRRUNG UND EXZESSE (193o—194o).
Die menschlichen Sitten gehorchen den Bewegungen der Wage und schlagen
immer über die Mittellage hinaus. Der Einfluß der Freudschen Theorie war
zunächst wohltuend gewesen. Es schien wahr zu sein, daß übertriebene Strenge
der geistigen und körperlichen Gesundheit der Menschen schadete, die weder
Heilige noch Impotente waren. Tatsächlich nahm die Zahl der Geisteskranken
in Europa sowohl wie in Amerika seit 1930 ab. Aber bald wurden unter dem
Vorwand, den Wünschen eines jeden gerecht zu werden, alle sozialen Bindungen
und Kontakte gelöst. Die frühere Ehe wurde durch die Scheidung, die man nur
anzumelden brauchte, durch die Junggesellenwirtschaft, durch den Verzicht
auf Kinder vollständig zerstört. In der victorianischen Zeit hatte die Sitten-
strenge harmlosen Vergnügen einen gewissen Reiz verliehen. Im neunzehnten
Jahrhundert fand sich die männliche und weibliche Jugend zu unschuldigen
Spielen, zu Sport und zum Studium zusammen. Seit 1935 bekamen die meisten
Zusammenkünfte ausschweifenden Charakter. Die öffentliche Meinung hatte sich
derart verändert, daß in England, dem ehemals sittenstrengen Land, der Anti-
Puritanismus eine Tugend geworden war. Er war zwar nicht durch das Gesetz
vorgeschrieben, aber er gelangte allgemein zur Anwendung, und die sozialen
Sanktionen waren unerbittlich. 1954 mußte der sozialistische Premierminister
zurücktreten, weil man ihn der ehelichen Treue verdächtigte. Er hatte zur Zeit
das Gesetz der „obligatorischen Psychoanalyse in den Kindergärten" durch-
gebracht. Man beschuldigte ihn der Hypokrisie. Eine Reihe großer europäischer
Zeitungen begann eine Kampagne, um zu beweisen, die sexuelle Freiheit Eng-
lands sei nur vorgetäuscht, es verstecke sich dort in Wahrheit hinter freien Reden
und freier Literatur manch keusches Leben. Die Beschuldigung war falsch, aber
der Fanatismus der „Freien" war ins Maßlose gewachsen.
ERSTE ANZEICHEN EINER REAKTION (194o—1950).
So ungefähr um das Jahr 1940 stieg die Kurve der Geisteskrankheiten mit
ziemlicher Schnelligkeit. Für uneingeweihte Beobachter mußte es den Anschein
erwecken, als bedeute dieses Symptom den Zusammenbruch der neuen Moral.
Aber die „Freien" forderten, unduldsam und blind wie sie waren, noch neue
Freizügigkeiten dazu. Dennoch machten sich langsam aber sicher Anzeichen einer
Reaktion bemerkbar. 1942 erschien ohne Namensnennung ein merkwürdiges
Buch: „Beichte eines Kindes des neuen Jahrhunderts", es enthüllte mit naivem Scham-
gefühl die Verwirrung, das Bedürfnis nach Sentimentalität der jungen Generatio-
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