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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 5
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Maurois, André: Die sexuelle Moral um 1950
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0490

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Otto Th. W. Stein

nen. Der Erfolg war ungeheuer, so groß, daß mehrere Schriftsteller beherzt oder
eifersüchtig, selbst auf die Gefahr einer Strafverfolgung hin, es versuchten,
dieselbe Quelle auszunutzen. 1943 wurde der berühmte Roman „Conjugal Happi-
ness" von Miß Brushwood veröffentlicht, in dem sie mit einer für die damaligen
Verhältnisse geradezu unglaublichen Schamlosigkeit die Freuden der Treue,
der normalen Liebe und der unauflöslichen Ehe schildert. Die englische Zensur
verbot dieses Buch, aber es wurde inFrankreich sofort neu aufgelegt, und Tausende
von Exemplaren wurden in England eingeschmuggelt. Eine Gruppe inter-
nationaler Schriftsteller, an ihrer Spitze der berühmte Kri-
tiker Desmond Mac Carthy, protestierte gegen die Verfügung
des Home Office und verlangte die Freigabe der Tugend-
haftigkeit. Die Liga der „Freien" widersprach entrüstet im
Namen der Moral. Diese Kampagne weckte lebhafte Neu-
gierde, und die Auflage des Buches, das in alle Sprachen der
Welt übersetzt wurde, erreichte niedagewesene Ziffern. In
den Vereinigten Staaten wurden mehr als 1 300 000 Exem-
plare verkauft; in Deutschland 800 000, in England 300 000
(heimliche Auflage), 70 000 in Frankreich, 20 000 in Holland.
Die männliche und weibliche Jugend schien ein ganz besonderes
Vergnügen (die klassischen Moralisten nannten es ungesund)
an den Gefühlsschilderungen zu finden.
Bald wurde der Einfluß von Conjugal Happmess und der
„keuschen" Schule deutlich merkbar. Kleine Gruppen, die
zuerst noch ziemlich zurückhaltend waren, aber immer zahl-
reicher wurden, versuchten nach den von Miß Brushwood
aufgestellten Grundsätzen zu leben. Alte Amerikaner können
sich entsinnen, daß es im Winter 1943-1944 in New York und
Boston modern war, sogenannte conjugal parties zu veranstalten,
natürlich im geheimen; man lud dazu nur verheiratete Paare

ein, die den ganzen Abend zusammen verbrachten. Diese Sitten erregten
Ärgernis, aber dennoch ahmte Europa sie nach. In Hyde Park mußte die
Polizei gegen verheiratete Paare einschreiten, die dort am klarlichten Tag auf
dem Rasen saßen und Gedichte lasen. Der Pariser Polizeipräfekt mußte eine
besondere Abteilung mit Motorrädern schaffen, um die Frauen im „Tugendkleid",
das bis zum Hals zugeknöpft war, aus dem Bois de Boulogne zu vertreiben,
damit ihr Anblick nicht die Passanten beleidige. Ein Professor der Philosophie
wurde von einer alten europäischen Universität relegiert wegen verstockterAskese.
Es stand fest, daß die Moral der Freiheit von der Elite nicht mehr respektiert
wurde, wenn sie auch nach wie vor die Moral der Massen blieb.
DER SCHMIDTISMUS.
1954 veröffentlichte Dr. Schmidt, ein Arzt in Lausanne, dessen Name später
so berühmt wurde, ein Buch über die Verdrängungen des Schamgefühls. Heute
erscheint uns seine Lehre klar. Damals bedeutete sie für viele Leser eine Ent-
hüllung.
Doktor Schmidt behauptete: 1. der Mensch ist seit mehr als fünfzehntausend
Jahren Mitglied organisierter Gruppen, die soziale Moral und der Zwang, den

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