Nach Verbüßung der Strafe kehrte Pilsudski in die Heimat zurück, wo er der
neugebildeten polnischen sozialistischen Partei beitrat. Er wurde sofort einer ihrer
Führer und gleichzeitig Begründer, Herausgeber und Schriftleiter des illegalen
Presseorgans „Der Arbeiter". Die Druckerei befand sich in einem Wandschrank,
und das Papier wurde im Diwan versteckt. 35 Nummern gelangten glücklich unter
die Leute, doch bei der 36sten — der Redaktionsstab war inzwischen nach Lodz
übergesiedelt — kam die Polizei dahinter, gerade in dem Augenblick, als der
Artikel „Der Triumph des freien Wortes" aus dem Satz kam. Pilsudski wurde
verhaftet, nach Warschau geschafft und in die Zitadelle eingeliefert, in die Abtei-
lung für besonders wichtige Staatsverbrecher.
Die polnische sozialistische Partei beschloß, ihren Führer zu befreien, wozu ein
sehr schlauer Plan ausgeheckt wurde. Pilsudski begann, Geisteskrankheit zu
simulieren. Geisteskrankheiten unterlagen nicht der Kompetenz des Gefängnis-
arztes; die Verwaltung konsultierte einen berühmten Warschauer Psychiater,
Prof. Schabaschnikow. Dieser durchschaute natürlich sofort die Täuschung und
fragte (unter vier Augen) Pilsudski geradeheraus, weswegen er die Komödie
eigentlich inszeniere. Nachdem er erfahren hatte, worum es sich handelte, stellte
er sofort die Bescheinigung über Geisteskrankheit aus, auf Grund welcher
Pilsudski in die Petersburger psychiatrische Klinik übergeführt wurde. An dieser
Klinik wirkte ein gewisser Doktor Masurkewicz, Mitglied der polnischen sozia-
listischen Partei. Eines Tages wurde der Kranke diesem Arzt zur Untersuchung
vorgeführt. Letzterer entfernte die Wachen, Pilsudski verkleidete sich, worauf er
und der Arzt in aller Ruhe zur Paradetür hinausgingen, sich in einen draußen
haltenden Wagen setzten und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Pilsudski
reiste nach Kiew, gab — eine ungeheure Dreistigkeit — - ein Extrablatt des
„Arbeiters" heraus und begab sich ins Ausland.
Er ließ sich in Krakau nieder. In dieser Periode seines Lebens haben sich, so
scheint es, seine Ansichten über die Kampfmethoden zur Befreiung Polens end-
gültig geformt und gefestigt. Die Perspektive schien ihm günstig. Der lange
schon drohende russisch-japanische Krieg brach aus. Pilsudski reiste sofort nach
Tokio; er plante, in Russisch-Polen einen Aufstand zu inszenieren, und wollte
dazu die Regierung des Mikado um Geld und Waffen bitten. Indes der Plan miß-
lang: die japanische Regierung lehnte die Unterstützung Pilsudskis ab.
Er kehrte nach Europa zurück. An die Stelle des Krieges trat die erste russische
Revolution. Im Frühjahr 1905 gründete Pilsudski eine Kampforganisation der
polnischen sozialistischen Partei. Die Aufgaben dieser Organisation werden von
einem Zeitgenossen folgendermaßen charakterisiert: „Die Kampforganisation
schützte die Parteiquartiere, verteidigte den Führer der Partei während der
Straßendemonstrationen, vernichtete die Spione, Provokateure und besonders
grausame Polizisten. Endlich vollführte sie unter persönlicher Führung Josef Pil-
sudskis eine Reihe tollkühner Überfälle auf russische Geldtransporte mit dem
Zweck, die Partei zu bereichern. . . . Im Jahre 1905 befand sich Pilsudski mit dem
Kaiserlichen Rußland im Kriegszustand. Die Aktionen in Rogow, in Masowecz,
in Besdany waren glänzende Kriegstaten. . ." Die Tätigkeit der Kriegsorganisation
hat ihren Führer enttäuscht. Soweit ich zu urteilen vermag, hat sie weder seinen
Neigungen noch seinem Charakter entsprochen. Personen, die ihn gut gekannt
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neugebildeten polnischen sozialistischen Partei beitrat. Er wurde sofort einer ihrer
Führer und gleichzeitig Begründer, Herausgeber und Schriftleiter des illegalen
Presseorgans „Der Arbeiter". Die Druckerei befand sich in einem Wandschrank,
und das Papier wurde im Diwan versteckt. 35 Nummern gelangten glücklich unter
die Leute, doch bei der 36sten — der Redaktionsstab war inzwischen nach Lodz
übergesiedelt — kam die Polizei dahinter, gerade in dem Augenblick, als der
Artikel „Der Triumph des freien Wortes" aus dem Satz kam. Pilsudski wurde
verhaftet, nach Warschau geschafft und in die Zitadelle eingeliefert, in die Abtei-
lung für besonders wichtige Staatsverbrecher.
Die polnische sozialistische Partei beschloß, ihren Führer zu befreien, wozu ein
sehr schlauer Plan ausgeheckt wurde. Pilsudski begann, Geisteskrankheit zu
simulieren. Geisteskrankheiten unterlagen nicht der Kompetenz des Gefängnis-
arztes; die Verwaltung konsultierte einen berühmten Warschauer Psychiater,
Prof. Schabaschnikow. Dieser durchschaute natürlich sofort die Täuschung und
fragte (unter vier Augen) Pilsudski geradeheraus, weswegen er die Komödie
eigentlich inszeniere. Nachdem er erfahren hatte, worum es sich handelte, stellte
er sofort die Bescheinigung über Geisteskrankheit aus, auf Grund welcher
Pilsudski in die Petersburger psychiatrische Klinik übergeführt wurde. An dieser
Klinik wirkte ein gewisser Doktor Masurkewicz, Mitglied der polnischen sozia-
listischen Partei. Eines Tages wurde der Kranke diesem Arzt zur Untersuchung
vorgeführt. Letzterer entfernte die Wachen, Pilsudski verkleidete sich, worauf er
und der Arzt in aller Ruhe zur Paradetür hinausgingen, sich in einen draußen
haltenden Wagen setzten und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Pilsudski
reiste nach Kiew, gab — eine ungeheure Dreistigkeit — - ein Extrablatt des
„Arbeiters" heraus und begab sich ins Ausland.
Er ließ sich in Krakau nieder. In dieser Periode seines Lebens haben sich, so
scheint es, seine Ansichten über die Kampfmethoden zur Befreiung Polens end-
gültig geformt und gefestigt. Die Perspektive schien ihm günstig. Der lange
schon drohende russisch-japanische Krieg brach aus. Pilsudski reiste sofort nach
Tokio; er plante, in Russisch-Polen einen Aufstand zu inszenieren, und wollte
dazu die Regierung des Mikado um Geld und Waffen bitten. Indes der Plan miß-
lang: die japanische Regierung lehnte die Unterstützung Pilsudskis ab.
Er kehrte nach Europa zurück. An die Stelle des Krieges trat die erste russische
Revolution. Im Frühjahr 1905 gründete Pilsudski eine Kampforganisation der
polnischen sozialistischen Partei. Die Aufgaben dieser Organisation werden von
einem Zeitgenossen folgendermaßen charakterisiert: „Die Kampforganisation
schützte die Parteiquartiere, verteidigte den Führer der Partei während der
Straßendemonstrationen, vernichtete die Spione, Provokateure und besonders
grausame Polizisten. Endlich vollführte sie unter persönlicher Führung Josef Pil-
sudskis eine Reihe tollkühner Überfälle auf russische Geldtransporte mit dem
Zweck, die Partei zu bereichern. . . . Im Jahre 1905 befand sich Pilsudski mit dem
Kaiserlichen Rußland im Kriegszustand. Die Aktionen in Rogow, in Masowecz,
in Besdany waren glänzende Kriegstaten. . ." Die Tätigkeit der Kriegsorganisation
hat ihren Führer enttäuscht. Soweit ich zu urteilen vermag, hat sie weder seinen
Neigungen noch seinem Charakter entsprochen. Personen, die ihn gut gekannt
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