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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 6
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Rost, Nico: Kohlen, Polen und van Gogh im Borinage
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0550

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KOHLEN, POLEN UND VAN GOGH
IM BORINAGE
Von
NICO ROST
I.
Um sieben Uhr abends ist es schon dunkel in St. Ghislain, dem Zentrum des
belgischen Kohlengebietes, des Borinage. Man begegnet keinem Menschen,
die Cafes und Estaminets schließen früh an gewöhnlichen Tagen, die Kinos, in denen
man Valentino und Orakel Toms Hütte sehen kann, spielen nur einmal wöchent-
lich, die Straßen sind beleuchtet wie im Mittelalter, und kaum findet man durch
die vielen Pfützen seinen Weg. Nur das Maison du peuple, das Vereinslokal der
Sozialdemokraten, ist geöffnet. Ich gehe hinein und erwarte hier, das Herz des
Borinage, die Stimme dieser 80000 Grubenarbeiter zu hören, sehe aber nur wenige
Arbeiter. Keiner von ihnen rebelliert gegen die geringen Löhne, die die Charbon-
nages zahlen, lieber beraten sie über Teilnahme an einem Sportfest in Mons
oder über einen Wettkampf ihrer Amateurtheater in Charleroi. Viel höre ich von
einer Tombola, die dieses Jahr wie immer stattfinden wird und bei der die Frauen
ein seit Jahren begehrtes Spitzenhemd gewinnen können. Die Sozialdemokratie
des Borinage scheint in der Sehnsucht der Mineursfrauen nach Spitzenhemden
ihre Stütze zu finden. Der Weg zu Marx geht hier über die seidene Unterwäsche.
Und die meisten andern sind katholisch.
An der Schranke am Bahnhof steht ein Bettler, un vieux mineur, einer, der
achtzehn Jahre in den Gruben arbeitete, durch einen Einsturz gelähmt wurde,
nun ohne Rente herumläuft, nachts in den Tunnels schläft, der von den anderen
verspottet wird, aber auch genährt. Betrunken zeigt er mit seinen Krücken auf die
Terrins, die Berge aus Kohlen. Pigeon d'or heißt das Lokal, das jetzt noch auf ist
und wo jeden Abend bis spät getrunken wird. Hier verkehrt Ademar, der alte
Aufseher, der porignon, der sitzen wird bis zwei, immer trinkt, und der schon
um sechs wieder hineinfahren muß, 1200 m au fond, bis er hier wieder seinen
Platz einnehmen kann, um zu vergessen, was war und wieder sein wird. Jeden
Tag — unabänderlich. Da ist Antoine, der Kellner des pigeon d'or, der abends
um sechs, wenn er erst eine Stunde wieder oben ist, seinen Dienst hier antritt.
Auch als Kellner ein mineur. Als heute abend ein Geschäftsreisender aus Lille,
der Fromms Act verkauft, über die Bedienung der Kellner klagt, die in Paris und
Brüssel viel besser sei, und immer wieder neue Bemerkungen macht, verliert er
die Geduld und sagt langsam und drohend: „Ici ce n'est pas Paris, ici c'est le pays
des mineurs." Und die anderen Mineurs nicken schweigend und ernst, auch der
Wirt. Zigeuner kommen herein in phantastischen Kitteln, mit langen Peitschen,
und Frauen und Kindern, obwohl es schon spät am Abend ist. Morgen ist Pferde-
markt in St. Ghislain. Ein junger Bergarbeiter setzt sich zu uns. Keine Spur von
Deutschenhaß ist zu merken. Er schüttelt uns die Hände, absichtlich, damit auch
die andern es merken. „Wir allen Kamerad, hier alles Kamerad, Kapitalismus
nix gut." Wohl zwanzigmal wiederholt er den Satz, 1000 Meter unter der Erde

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