ist er nach Jahren zu diesem Gedanken gekommen. Jetzt muß er es immer wieder
sagen, denn es ist sein Gedanke, den er sich mühsam erworben hat. Ganz in der
Ecke sitzt ein junger Jude aus Karpatho-Rußland. Niemand kennt ihn. Ein
Reisender in Zuckerwaren, der im Auftrag einer Firma aus Nancy die Dorf-
rummelplätze besuchen muß. Karpatho-Rußland? Rußland? Plötzlich sind alle
aufmerksam geworden. Vielleicht ein Propagandist, wovor die Ingenieure sich
immer so fürchten? Man denkt an Spione, die man in Schundfilmen gesehen hat,
aber man denkt mit Neugier und vielleicht mit ein wenig Hoffnung. Sogar Ademar
ist aufgewacht, und der junge Mineur wiederholt: „Alles Kamerad, Kapitalismus
nicht gut."
Spuren vom Krieg sind am nächsten Tag überall zu merken. Jeden Augenblick
kann man in den Straßen von Wasmes, von Paturages, St. Ghislain, Jemappes,
Hornu, Quesmes und Quaregnon lesen: Zimmer für ... Offnere, Raum für
... Mannschaften, Stall für ... Pferde. Es steht noch immer da und man hat es
ruhig stehen lassen. Man hat andere Sorgen. Überall alte Häuser, nirgends große
Schulen oder Spielplätze, nirgends Parks oder Blumen, nirgends auch nur etwas,
was das Leben in diesem schwarzen Land verschönern könnte. So sind alle diese
Dörfer, das eine wie das andere. Was hätten Schönheit und Natur hier zu suchen.
Hier ist Industrie, hier sind Charbonnages. 1200 Meter unter der Straße, auf der
wir laufen, arbeiten jetzt die Mineurs. Die Nachtschicht, die eben heimgekehrt ist,
schläft, so daß man meist nur Frauen und Kindern begegnet. Größer an Zahl als
die Menschen sind die vielen kleinen Förderwagen, die auf Schwebebahnen
über uns hinwegrattern. Manche eilen am Drahtseil an uns vorüber zu den Terrins
und kippen dort, wieder andere fahren geradeswegs ohne menschliche Begleitung
zu den Kanälen, wo die Kohlenschiffe bereit liegen und jährlich fünfzehn Millionen
Tonnen Kohlen befördern. Sie fahren aus dem Lande, und das Geld fährt mit den
Kohlen mit zu den Direktoren in Brüssel oder Lüttich, Ostende oder Blanken-
berghe.
Plötzlich, in Wasmes, in einem Garten: zwei Statuen von Constantin Meunier;
und man erinnert sich, daß er hier Jahrzehnte gearbeitet hat. Camille Lemonnier,
der für sein Buch La vie belge einen Zeichner brauchte, hat sich den jungen
Meunier ausgesucht und ihn in das Kohlenrevier seiner Heimat geführt. Dieser
erste Besuch war entscheidend, und seitdem ist er immer wieder hierher zurück-
gekommen und hat in Wasmes sogar ein paar Jahre gewohnt. Und jetzt weiß man
plötzlich, warum einem diese Mineurs gar nicht fremd waren, wo man sie öfters
gesehen hat: diese Arbeiter mit ihrem Halstuch und ihrer Kaffeepulle an einem
Strick um den Hals, das Mädchen, das jetzt ihrem Vater entgegenläuft, die Mutter,
die dauernd in Unruhe ist über das Schicksal ihres Sohnes; jetzt weiß man, wieso
es kam, daß Ademar und der junge Mineur aus dem pigeon d'or und sogar der
alte Bettler uns vom ersten Augenblick vertraut waren: Wir sind ihnen allen schon
begegnet in Brüssels Museum der schönen Künste. Jetzt sehen wir auch, daß bei
Meuniers Verherrlichung der Arbeit, denn das wollte er doch erreichen, etwas
nicht stimmt: daß die Arbeit, welche diese 80000 Mineurs tagtäglich ausüben, sie
quält und erniedrigt, und niemals verherrlicht werden kann.
Beinahe jeder dieser Mineurs trägt Narben an Gesicht und Händen, Spuren von
fallender Kohle, von Verwundungen in der Dunkelheit des Schachts. Keiner aber
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sagen, denn es ist sein Gedanke, den er sich mühsam erworben hat. Ganz in der
Ecke sitzt ein junger Jude aus Karpatho-Rußland. Niemand kennt ihn. Ein
Reisender in Zuckerwaren, der im Auftrag einer Firma aus Nancy die Dorf-
rummelplätze besuchen muß. Karpatho-Rußland? Rußland? Plötzlich sind alle
aufmerksam geworden. Vielleicht ein Propagandist, wovor die Ingenieure sich
immer so fürchten? Man denkt an Spione, die man in Schundfilmen gesehen hat,
aber man denkt mit Neugier und vielleicht mit ein wenig Hoffnung. Sogar Ademar
ist aufgewacht, und der junge Mineur wiederholt: „Alles Kamerad, Kapitalismus
nicht gut."
Spuren vom Krieg sind am nächsten Tag überall zu merken. Jeden Augenblick
kann man in den Straßen von Wasmes, von Paturages, St. Ghislain, Jemappes,
Hornu, Quesmes und Quaregnon lesen: Zimmer für ... Offnere, Raum für
... Mannschaften, Stall für ... Pferde. Es steht noch immer da und man hat es
ruhig stehen lassen. Man hat andere Sorgen. Überall alte Häuser, nirgends große
Schulen oder Spielplätze, nirgends Parks oder Blumen, nirgends auch nur etwas,
was das Leben in diesem schwarzen Land verschönern könnte. So sind alle diese
Dörfer, das eine wie das andere. Was hätten Schönheit und Natur hier zu suchen.
Hier ist Industrie, hier sind Charbonnages. 1200 Meter unter der Straße, auf der
wir laufen, arbeiten jetzt die Mineurs. Die Nachtschicht, die eben heimgekehrt ist,
schläft, so daß man meist nur Frauen und Kindern begegnet. Größer an Zahl als
die Menschen sind die vielen kleinen Förderwagen, die auf Schwebebahnen
über uns hinwegrattern. Manche eilen am Drahtseil an uns vorüber zu den Terrins
und kippen dort, wieder andere fahren geradeswegs ohne menschliche Begleitung
zu den Kanälen, wo die Kohlenschiffe bereit liegen und jährlich fünfzehn Millionen
Tonnen Kohlen befördern. Sie fahren aus dem Lande, und das Geld fährt mit den
Kohlen mit zu den Direktoren in Brüssel oder Lüttich, Ostende oder Blanken-
berghe.
Plötzlich, in Wasmes, in einem Garten: zwei Statuen von Constantin Meunier;
und man erinnert sich, daß er hier Jahrzehnte gearbeitet hat. Camille Lemonnier,
der für sein Buch La vie belge einen Zeichner brauchte, hat sich den jungen
Meunier ausgesucht und ihn in das Kohlenrevier seiner Heimat geführt. Dieser
erste Besuch war entscheidend, und seitdem ist er immer wieder hierher zurück-
gekommen und hat in Wasmes sogar ein paar Jahre gewohnt. Und jetzt weiß man
plötzlich, warum einem diese Mineurs gar nicht fremd waren, wo man sie öfters
gesehen hat: diese Arbeiter mit ihrem Halstuch und ihrer Kaffeepulle an einem
Strick um den Hals, das Mädchen, das jetzt ihrem Vater entgegenläuft, die Mutter,
die dauernd in Unruhe ist über das Schicksal ihres Sohnes; jetzt weiß man, wieso
es kam, daß Ademar und der junge Mineur aus dem pigeon d'or und sogar der
alte Bettler uns vom ersten Augenblick vertraut waren: Wir sind ihnen allen schon
begegnet in Brüssels Museum der schönen Künste. Jetzt sehen wir auch, daß bei
Meuniers Verherrlichung der Arbeit, denn das wollte er doch erreichen, etwas
nicht stimmt: daß die Arbeit, welche diese 80000 Mineurs tagtäglich ausüben, sie
quält und erniedrigt, und niemals verherrlicht werden kann.
Beinahe jeder dieser Mineurs trägt Narben an Gesicht und Händen, Spuren von
fallender Kohle, von Verwundungen in der Dunkelheit des Schachts. Keiner aber
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