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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 6
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Istrati, Panaït: Die Sitten von Moskau
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0583

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äußerst geringfügig sind. Sie leben mit dreißig bis vierzig Rubel monatlich in
Studentenheimen, in denen häufig der elementarste Komfort fehlt. Einzelne unter
ihnen arbeiten den halben Tag, ehe sie die Vorlesungen besuchen, in den Häfen
oder in Fabriken als Tagelöhner. Die meisten studieren mit eiserner Energie,
einzelne verlieren den Mut, was man ihnen nicht übelnehmen kann. Sie sind leichte
Beute für moralische Erkrankungen. Man erzählte mir, daß der Selbstmord des
jungen Jessenin in der Schule der technischen Künste in Moskau (Vkhutemass)
eine Selbstmordepidemie zur Folge hatte.
Dennoch entspricht es der Wahrheit, wenn der westliche Besucher die U. d.
S. S. R. für ein Land der gesunden Sitten hält, in dem die Ausschweifungen der
großen Städte unbekannt sind, wo im Leben der Menschen Arbeit, Studium und
Kampf tatsächlich hoch über allem andern stehen. Es gibt nicht weniger dauer-
hafte Ehen als anderswo; Familien, in denen Einigkeit und zugleich Freiheit
herrscht, sind nicht selten. Man begegnet unter den Kommunisten sehr vielen
schönen Ehen, in denen Mann und Frau die gleichen sozialen Pflichten und die
gleiche Lebensauffassung verbinden.
Die Leute, die in einem gewissen Wohlstand leben, richten sich mit Vorliebe
nach der westlichen Mode. Der Ingenieur oder der kommunistische Funktionär,
der in Geschäften ins Ausland geschickt wurde, bringt unfehlbar Anzüge im
modernsten Schnitt für sich und für seine Frau seidene Strümpfe mit. Das
Publikum in den Theatern unterscheidet man häufig auf den ersten Blick kaum von
dem einer Berliner Vorstellung. Ist dieser Mangel an Originalität nicht eigentlich
bedauerlich? Die russischen Arbeiter, die gemeinsam an dem Werk der sozialen
Umgestaltung arbeiten, sollten sich eine Kleidung schaffen, die ihre individuelle
Haltung zum Ausdruck bringt, eine neue, individuelle Eleganz für das Wesen
ihrer Frauen. Sie wäre einfacher, vernünftiger und weniger verzerrt, schöner und
reiner in ihrer Sinngemäßheit als die unserer westlichen Länder mit ihrer Opulenz
und ihrer Unausgeglichenheit.

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