Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0728
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Heft 7
DOI article:Straus-Ernst, Louise: Die Mädchen von Düsseldorf
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scheint. Die Literatur kennt die mondäne Dame und die Dirne, kennt die berufs-
tätige Frau, die Bäuerin, die Hochstaplerin. Aber mit wenigen, kümmerlichen
Ausnahmen — kennt sie nicht das kleine Dienstmädchen. Heute heißt das „Haus-
angestellte". Aber damit hat sich nicht viel im unbeachteten Leben solcher
Geschöpfe geändert; damit ist täglicher Zwang und Eingesperrtsein geblieben,
geblieben auch Sehnsucht nach gutem, freiem Leben, nach Geliebtsein und Ver-
wöhntwerden.
Fast alle Mädchen, die mit dem Mörder Peter Kürten in Beziehung standen,
waren Hausangestellte. Und sie gingen gern mit ihm, lieber als mit den Männern,
die sich ihnen sonst boten. Einer seiner Freunde, der verhört worden ist, sagte
von ihm: „Ich weiß nicht, was er an sich hatte. Aber die Weiber waren ganz
verrückt nach ihm." Und fügt dann noch hinzu: „Er war ja ruhig und ver-
schlossen; aber wenn so ein Mädel in die Nähe kam, wurde er plötzlich ganz
anders."
Dieser Mann mit dem bösen breiten Mund, dem genußsüchtigen Zug um die
Nasenflügel konnte zart und fürsorglich reden, wenn ein Mädchen sich ihm
anvertraut hatte. Sofie K., eine kleine Schwäbin, mit dunkellockigem Bubenkopf,
erzählt vertrauensvoll, wie sie, zu einer Weihnachtsfeier verabredet, aber von
ihrem Freund versetzt, unglücklich an einer Straßenecke steht, als Kürten mit
einem Freund sie anredet und sie mit ins Kino nimmt. Später verstehen sich die
beiden so gut, daß sie sich immer wieder treffen; sie besucht auch Kürten, der
seine Ehe verleugnet, in seiner Wohnung; er umsorgt sie, kocht Kakao für sie,
redet von seiner Mutter, von kirchlicher Trauung. Einmal bei einem Wald-
spaziergang, als „sie nicht so ganz wollte wie er", wird er wohl handgreiflich,
tut ihr weh. Es ist einer seiner üblichen Würgversuche. Aber das verliebte
Mädchen sieht so etwas als Recht seiner männlichen Überlegenheit an. Sie
schmollt zwar eine Weile, aber schließlich — er wollte sie doch heiraten, und
er „konnte so lieb sprechen". Am Ende läuft sie doch wieder zu ihm und zieht
sich erst zurück, als sie erfährt, daß er verheiratet ist. Als dann am Ende der Unter-
redung der Reporter ihr mitteilt, wer ihr Freund in Wahrheit gewesen ist, will
sie es nicht glauben, erleidet dann einen Nervenzusammenbruch im nachträg-
lichen Entsetzen über die Gefahr, der sie entronnen ist.
Man könnte glauben, die Mädchen, die sich mit Kürten einließen, seien
.abenteuersüchtig gewesen, vielleicht auch versessen auf allerlei Perversionen.
Aber solche suchte er ja nicht! Einmal will eines der Mädchen ihm gleich zu
Willen sein, doch er läßt sie einfach liegen, ohne sie anzurühren. „Ach, mit dir
ist ja nichts anzufangen." Junge lebens- und liebeshungrige Dinger sucht er,
Mädchen, die, von einer Dienstherrschaft zur andern wechselnd, keine Gelegen-
heit finden, Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, die eine ganze Woche
über im Gedanken an den freien Sonntag leben und beglückt sind, für diesen
Sonntag einen Kavalier zu finden, der galant und höflich mit ihnen ist. So saß
Maria Hahn mit Kürten in dem Ausflugsort Papendell beim Rotwein, ehe sie im
benachbarten Wald die tödlichen Messerstiche erhielt; so bummelte Ida
Reuter mit dem Verführer durch die Oberkasseler Rheinwiesen, wo sie später
erschlagen aufgefunden wurde.
Auf den Bahnhöfen strolcht Kürten herum, sucht sich Mädchen aus, die
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tätige Frau, die Bäuerin, die Hochstaplerin. Aber mit wenigen, kümmerlichen
Ausnahmen — kennt sie nicht das kleine Dienstmädchen. Heute heißt das „Haus-
angestellte". Aber damit hat sich nicht viel im unbeachteten Leben solcher
Geschöpfe geändert; damit ist täglicher Zwang und Eingesperrtsein geblieben,
geblieben auch Sehnsucht nach gutem, freiem Leben, nach Geliebtsein und Ver-
wöhntwerden.
Fast alle Mädchen, die mit dem Mörder Peter Kürten in Beziehung standen,
waren Hausangestellte. Und sie gingen gern mit ihm, lieber als mit den Männern,
die sich ihnen sonst boten. Einer seiner Freunde, der verhört worden ist, sagte
von ihm: „Ich weiß nicht, was er an sich hatte. Aber die Weiber waren ganz
verrückt nach ihm." Und fügt dann noch hinzu: „Er war ja ruhig und ver-
schlossen; aber wenn so ein Mädel in die Nähe kam, wurde er plötzlich ganz
anders."
Dieser Mann mit dem bösen breiten Mund, dem genußsüchtigen Zug um die
Nasenflügel konnte zart und fürsorglich reden, wenn ein Mädchen sich ihm
anvertraut hatte. Sofie K., eine kleine Schwäbin, mit dunkellockigem Bubenkopf,
erzählt vertrauensvoll, wie sie, zu einer Weihnachtsfeier verabredet, aber von
ihrem Freund versetzt, unglücklich an einer Straßenecke steht, als Kürten mit
einem Freund sie anredet und sie mit ins Kino nimmt. Später verstehen sich die
beiden so gut, daß sie sich immer wieder treffen; sie besucht auch Kürten, der
seine Ehe verleugnet, in seiner Wohnung; er umsorgt sie, kocht Kakao für sie,
redet von seiner Mutter, von kirchlicher Trauung. Einmal bei einem Wald-
spaziergang, als „sie nicht so ganz wollte wie er", wird er wohl handgreiflich,
tut ihr weh. Es ist einer seiner üblichen Würgversuche. Aber das verliebte
Mädchen sieht so etwas als Recht seiner männlichen Überlegenheit an. Sie
schmollt zwar eine Weile, aber schließlich — er wollte sie doch heiraten, und
er „konnte so lieb sprechen". Am Ende läuft sie doch wieder zu ihm und zieht
sich erst zurück, als sie erfährt, daß er verheiratet ist. Als dann am Ende der Unter-
redung der Reporter ihr mitteilt, wer ihr Freund in Wahrheit gewesen ist, will
sie es nicht glauben, erleidet dann einen Nervenzusammenbruch im nachträg-
lichen Entsetzen über die Gefahr, der sie entronnen ist.
Man könnte glauben, die Mädchen, die sich mit Kürten einließen, seien
.abenteuersüchtig gewesen, vielleicht auch versessen auf allerlei Perversionen.
Aber solche suchte er ja nicht! Einmal will eines der Mädchen ihm gleich zu
Willen sein, doch er läßt sie einfach liegen, ohne sie anzurühren. „Ach, mit dir
ist ja nichts anzufangen." Junge lebens- und liebeshungrige Dinger sucht er,
Mädchen, die, von einer Dienstherrschaft zur andern wechselnd, keine Gelegen-
heit finden, Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, die eine ganze Woche
über im Gedanken an den freien Sonntag leben und beglückt sind, für diesen
Sonntag einen Kavalier zu finden, der galant und höflich mit ihnen ist. So saß
Maria Hahn mit Kürten in dem Ausflugsort Papendell beim Rotwein, ehe sie im
benachbarten Wald die tödlichen Messerstiche erhielt; so bummelte Ida
Reuter mit dem Verführer durch die Oberkasseler Rheinwiesen, wo sie später
erschlagen aufgefunden wurde.
Auf den Bahnhöfen strolcht Kürten herum, sucht sich Mädchen aus, die
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