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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 8
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Aldanov, Mark A.: Das Rätsel Pilsudski
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0774

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bildete die Anwesenheit von Journalisten. Woicechowski betrat die Brücke und
fragte den ersten besten Ulanenoffizier:
„Wissen Sie, daß ich der Präsident der Polnischen Republik bin?"
Der Offizier bejahte.
„Wie durften sie sich erdreisten, sich gegen das gesetzlich gewählte Staats-
oberhaupt, gegen den obersten Führer sämtlicher bewaffneter Kräfte Polens zu
erheben?"
Darauf erwiderte der Offizier nichts. Von drüben näherte sich bereits Marschall
Pilsudski. Nach den Worten eines Augenzeugen (Herr Smogorschewski) lächelte
er fröhlich. Ohne ihm die Hand zu reichen, sagte der Präsident laut:
„Herr Marschall, auf Ihnen ruht eine furchtbare Verantwortung. Die repu-
blikanische Regierung wird in der Verteidigung der Konstitution Ihnen nicht
weichen. Ich befehle Ihnen, Ihre Truppen sofort zurückzuführen!"
Der Marschall entgegnete schalkhaft: „Mein lieber Präsident, sehr gern.
Entfernen Sie die Regierung Witos, dann wollen wir weiter sehn."
„Nein! Das ist die gesetzliche Regierung!"
„In diesem Fall werde ich sie selbst entfernen."
„Bedenken Sie, was Sie tun! Sie erheben sich wider die Konstitution."
„Ich habe es bereits bedacht. Ich — bin der erste Marschall Polens. Ich tue,
was mir beliebt!"
„Nein, wir werden Sie daran hindern! Das sage ich Ihnen, ich, der Präsident
der Republik...!"
Der effektvolle Dialog hätte noch eine ganze Weile andauern können. Doch
Pilsudski unterbrach ihn nicht minder effektvoll. Es wiederholte sich die berühmte
Szene der Anrede des von der Insel Elba zurückgekehrten „Schicksalsmenschen"
an die ihm entgegengesandten französischen Truppen: „Soldaten! Wer von
euch will Kaiser Napoleon erschießen . . .?!" Marschall Pilsudski trat rasch
auf einen der vom Präsidenten herangeführten Kadetten zu und fragte ihn kurz:
„Würdest du dich entschließen können, auf den ersten Marschall Polens zu
schießen?"
Nach den Worten Smogorschewskis „erbleichte der Jüngling und schwieg.
Indes, in den Augen der Kadetten konnte der Marschall lesen, daß sie ihre Pflicht
erfüllen würden. Er machte kurz kehrt und schritt ohne einen Gruß langsam über
die Brücke in der Richtung auf die Prager Vorstadt zurück."
Gleich darauf begann der Kampf. Sein Endresultat war leicht vorauszusehen.
Die Kadetten wurden zurückgeschlagen und zogen sich auf Belvedere zurück.
Ihnen zu Hilfe rückten reguläre Regimenter heran. Der Präsident geleitete sie
persönlich in den Kampf und feuerte die Soldaten mit zündenden Reden an.
Doch auch die Truppen Pilsudskis erhielten Verstärkungen. Es entspann sich ein
verzweifelter Kampf. In den Straßen Warschaus traten Maschinengewehre, Panzer-
autos, sogar Tanks in Aktion. Die Regierungsgebäude wurden im Sturm genom-
men. Verwundete und Tote zählte man nach Hunderten. Ein eigentümlicher Zug
dieser blutigen Tage war, daß auf den Kampfstätten unentwegt Extrablätter aus-
gegeben wurden. Die Rechtsblätter riefen die Polen zum Schutz der Republik
auf, die linksgerichteten Organe feierten den militärischen Umsturz des
Diktators.

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