Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 8
DOI article:
Götz-Bergroth, Aja: Märchen und Schnäpse in Finnland
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0786

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ausgespielt hat: das seit 1918 freigewordene Finnland braucht ihn nicht mehr.
Er gehört zu den Schweden, die eine Elite und eine Minorität der Bevölkerung
ausmachen, und deren Geschlechter, vielleicht auch durch den russischen Einfluß
geschwächt und verweichlicht, anämisch geworden sind. Das neue Finnland
lächelt über Worte wie Tradition und Konvention: es braucht die beiden nicht.
Es ist wunderbar jung und mutig, Industrie und Militär sind von gestern, Amerika
von heute marschiert hinein: wozu sich dann noch mit einer Schicht des alten,
aussterbenden Adels belasten?
Es kommt mir so vor, als wären die Menschen, die der Natur so nahe leben
und den Elementen gewissermaßen ausgeliefert, viel stärker geblieben als die
von den Städten zerfetzten. Sie sind originell, kräftig, brennend in Liebe wie in
Haß: ihr Blut kocht nicht rasch wie der italienische Schaum, der leicht vergeht,
sondern er gährt lange in den Adern, bis die Flammen zum rasenden Gewitter
wachsen und durch Handlungen, oft mit Alkohol gemischt, das Leben illustrieren
wollen. Leider berichten die Zeitungen von Fällen und Überfällen dieser Substanz
Blut-Alkohol, wo es zu Kämpfen zwischen verschiedenen Gesinnungen ge-
kommen ist. Doch sieht der Ausländer nichts davon. Er sieht das traumhaft
schöne Land, die Flüsse, die Seen, die Inseln mit den weißen Birken, die Ur-
wälder, die uns zuflüstern, wir seien die ersten Füße in ihnen. Er sieht
kleine Städte, die ameisenhaft wachsen, er sieht Dörfer, die versprechen, Städte
zu werden. Er sieht Hotels, die heute gut sind und morgen besser, und er wünscht,
daß diese Fortschritte schnell kommen mögen, doch ohne die Naivität des Volkes
fortzunehmen.
Sie sind ganz eigenartig, diese Finnen. Sie sind unverdorben und redlich: es
ist schwer, sich mit ihnen zu befreunden, aber sie halten durch Jahre und Leben,
wenn sie uns einmal nahe kamen. Sie lachen selten, und das Lachen muß einen
Sinn haben. Die Südländer lachen um des Lachens willen, ohne andere Ursache,
als daß die Landschaft lacht. Die finnische Landschaft lacht nicht, sie träumt, aber
der Finne träumt nicht, er sinnt nach und denkt, und wenn er einmal lange genug
gedacht hat, wird er wachsen und anderen Völkern zeigen, wie schön er ge-
wachsen ist.
Die Sprache, die so alt wie ihr Stamm ist, war in Vergessenheit geraten, wurde
primitiv wie das Volk und fängt jetzt erst an, mit dem Volke zu wachsen. Vor
hundert Jahren war noch Schwedisch die Kultursprache des Landes, die der
Schulen und der Universitäten. Heute ist Schwedisch zwar noch obligatorisch,
aber nicht einmal für das Leben notwendig. Das Finnische klingt unendlich weich
und unendlich traurig, besonders in den Klängen der Volkslieder, die alle in
moll gehen und meistens von Raub und Mord, Blut und Liebe handeln.
Wer sich nicht mit den anerkannt populär schönen Ländern vollsaugen will,
sondern die Romantik und die Vergessenheit sucht, der sollte nach Finnland
fahren. Hier wird sich sein Leben durch die Einsamkeit verdoppeln, falls er nicht
den guten Einfall gehabt hat, als „Doppelgespann" hinzureisen; er wird finden,
daß dieses Land allen Hochzeitsreisenden ein Paradies bietet, voller Bäume,
voller Früchte, doppelt so süß, weil ein Teil ihrer uns verboten ist, und dadurch
besonders reizvoll, weil es groß genug ist, um uns vor andern, die in derselben
Absicht wie wir reisen, zu bewahren.

508
 
Annotationen