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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 9
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Adler, Alfred: Körperform, Bewegung und Charakter
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0878

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Schweden zu den besten Typen. Im alten Griechenland griff man zur Aussetzung
mißgestalteter Kinder. In der Ödipus-Sage zeigt sich der Fluch der vergewaltigten
Natur, vielleicht besser gesagt: der vergewaltigten Logik des menschlichen
Zusammenlebens.
Vielleicht trägt jeder von uns ein Idealbild der menschlichen Form in sich
und mißt den andern danach. Wir kommen im Leben ja niemals über die Not-
wendigkeit des Erratens hinweg. Geister, die einen höheren Flug nehmen, nennen
es Intuition. Dem Psychiater und Psychologen stellt sich die Frage, nach welchen
uns innewohnenden Normen wir die menschliche Form beurteilen. Hier scheinen
Erfahrungen aus dem Leben, oft geringfügigen Umfanges, und stereotype Bilder,
meist in der Kindheit festgehalten, den Ausschlag zu geben. Lavater und andere
haben ein System daraus gemacht. Entsprechend der ungeheuren Gleichartigkeit
solcher Eindrücke, wie wir uns geizige, wohlwollende, boshafte und verbreche-
rische Menschen vorstellen, ist, trotz allen berechtigten Bedenkens, nicht von der
Hand zu weisen, daß da unser heimlich abwägender Verstand die Form nach
ihrem Inhalt, nach ihrem Sinn fragt. Ist es der Geist, der sich den Körper schafft?
Ich möchte aus den Leistungen auf diesem Gebiet zwei hervorheben, weil sie
imstande sind, einiges Licht in das Dunkel des Problems von Form und Sinn zu
werfen. Wir wollen den Beitrag Caros nicht vergessen, um dessen Wieder-
belebung sich Klages sehr verdient gemacht hat. Noch sollen von neueren
Forschern Jaensch und Bauer nicht übergangen werden. Aber für diese Studie
möchte ich besonders Kretschmers hervorragende Arbeit betreffend „Körperbau
und Charakter" sowie Adlers „Studie über Minderwertigkeit der Organe"
heranziehen. Letztere ist die weitaus ältere. Ich dachte darin die Spuren der Brücke
gefunden zu haben, die aus angeborener körperlicher Minderwertigkeit, einer
formalen Minusvariante, durch Erzeugung eines größeren Minderwertigkeits-
gefühls Anlaß zu einer besonderen Spannung im psychischen Apparat gibt. Die
Anforderungen der Außenwelt werden daher als allzu feindlich empfunden, und
die Sorge um das eigene Ich erhöht sich bei Mangel eines richtigen Trainings in
deutlich egozentrischer Weise. Dadurch kommt es zu seelischer Überempfind-
lichkeit, Mangelhaftigkeit des Mutes und der Entschlußfähigkeit, und zu einem
unsozialen Apperzeptionsschema. Die Perspektive zur Außenwelt ist einer An-
passung im Wege und verleitet zu Fehlschlägen. Hier ergibt sich ein Aussichts-
punkt, von dem aus man mit allergrößter Vorsicht und fortwährendem Spähen
nach Bestätigungen oder Widersprüchen aus der Form auf das Wesen, auf den
Sinn schließen könnte. Ob erfahrene Physiognomiker instinktiv, jenseits der
Wissenschaft, diesen Weg gegangen sind, muß ich dahingestellt lassen. Daß
andererseits das psychische Training, aus dieser größeren Spannung entsprungen,
zu größeren Leistungen führen kann, konnte ich oft bestätigen. Ich glaube mich
nicht zu irren, wenn ich aus einigen Erfahrungen den Schluß ziehe, daß durch ein
geeignetes Training, psychisch und im Verhalten, endokline Drüsen wie z. B. die
Sexualdrüsen gefördert und im ungeeigneten Fall geschädigt werden können. Es
dürfte kein Zufall sein, wenn ich so oft bei infantilen, mädchenhaften Knaben
sowie bei knabenhaften Mädchen gleichzeitig ein Training im verkehrten Sinne
gefunden habe, das durch die Eltern angezettelt worden war.
Kretschmer hat durch die Gegenüberstellung des pyknoiden und schizoiden

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