vielmehr nur aus Werden, Geschehen und Tätigkeit. Panta rhei — alles ist in
dauerndem Fluß, körperlich und seelisch. Den Organismus beherrschen Logos
und Harmonie, das heißt die sinnvolle, zweckmäßige und zielstrebende Ver-
schmelzung der Gegensätze zu einer Einheit. Darum genügt Bier die mechanisti-
sche Kausalität nicht als beherrschendes Weltgesetz. Vielmehr steht sie unter dem
Logos und bedarf als ihres Gegensatzes der psychischen Kausalität. Vom Einfall
der Lichtstrahlen durch das Auge bis zur Netzhaut gilt die physische Kausalität.
Jenseits davon aber versagt sie nach Biers Auffassung gänzlich, da wir niemals die
Entstehungvon Licht- und Farbenempfindungen aus Ätherschwingungen begreifen
können. Dabei beschränkt Bier
seelische Vorgänge nicht allein
auf die Tätigkeit des Gehirns,
sondern erweitert ihren Bereich
auf den ganzen Organismus, die
„Physis" des Hyppokrates. Die
selbständige Regelung des Blut-
umlaufs in den Geweben
schreibt er beispielsweise einem
„Blutgefühl" zu, ebenso die
Arbeit der Verdauungsdrüsen
einem „unbewußten Willen".
Die Reizbarkeit unterscheidet
das Lebendige vom Nicht-
lebendigen, und der Reiz ist
der Anlaß, der die physische in
die psychische Kausalität über-
leitet. Das Bewußtsein ist der
große Warner und Erhalter
unseres Körpers. Legt man
einem Hunde eine blutab-
schnürende Binde um das Bein,
so beißt er sie sich ab, während
das stumpfsinnige Kaninchen
ohne Selbsthilfe das Bein ab-
sterben läßt. Körperliche und
seelische Kausalität sind keine Gegensätze, sondern bilden zusammen die Har-
monie des Organismus.
Der Freiburger Psychiater A. Hoche glaubt, daß die Leib- und Seele-Frage
immer ein Problem bleiben wird, dessen Lösung vielleicht einmal darin zu finden
sein wird, daß die Fragestellung falsch war, ähnlich wie bei den heftig umstrittenen
Fragen nach der Freiheit des Willens und der Unendlichkeit der Welt und der
Zeit. Wahrscheinlich gibt es überhaupt keine Grenze des seelischen Lebens,
sondern dieses ist ohne weiteres und immer mit dem Dasein organischer Materie
gegeben, wenn auch bei den niederen Lebewesen nur in kümmerlicher Form.
Die Vorgänge im Gehirn sind nicht Ursache, wohl aber Bedingung des geistigen
Lebens. Eine Weiterentwicklung des Gehirns und des Menschengeistes ist durch-
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