IST TREUE EINE TUGEND?
Von
GRÄFIN CATHERINE KAROLYI
Wie kommt es, daß klassische Treue stets tiefe Bewunderung bei uns auslöst
und von den Dichtern aller Zeiten in Liedern besungen wird? Etwa, weil
sie nur in unserer Einbildung existiert? Und schwärmen wir immer für Eigen-
schaften, die uns fehlen? Oder ist Treue eine altertümliche Tugend, die mit den
prähistorischen Ichthyosauren ausgestorben und nur noch als Mythos aus legen-
dären Zeiten überliefert ist? Sind wir heutzutage nicht mehr imstande, für die
Beständigkeit der wunderbaren Penelope Verständnis aufzubringen, die zwanzig
Jahre in Keuschheit auf die Rückkehr des umherirrenden Odysseus wartete und
zweihundert Freier abwies, die vergeblich ihre Reize zu erobern suchten?
Ich glaube immer, daß selbst in jenen Tagen Treue nichts anderes als eine
Erfindung poetischer Geister war — denn war Penelope nicht eine Ehebrecherin,
als sie sich in die Arme des um zwanzig Jahre gealterten Odysseus warf, der —
beladen mit den sicherlich nicht allzu moralischen Erfahrungen des Trojanischen
Kriegs, den Schauern seiner zahllosen Abenteuer und der süßen Erinnerung an die
lockenden Sirenen — für sie doch absolut ein Fremder sein mußte? Brach sie
damit nicht der Erinnerung an ihren jungen Gatten die Treue, der sie mit der
ersten jähen Leidenschaft der Jugend gebebt hatte, mit den idealistischen Erwar-
tungen romantischer Liebe?
Treue, freiwillige und nicht erzwungene, gibt es nur dem Idealbild, das sich
die Einbildungskraft erschuf, aber nicht dem eigentlichen Objekt gegenüber, das
— wie alles in der Natur — wandelbar ist; ihm treu zu sein bedeutet daher Verrat
an der Person, die man zu Anfang liebte. Don Juans vorherrschende Tugend war
meiner Ansicht nach die Treue. Sein Leben lang war er einem Ideal getreu, der
Frauengestalt seiner Phantasie, er wollte sich nicht mit Kompromissen begnügen.
Zum Glück für ihn und für uns konnte er sie niemals finden, sonst wäre er wohl
zu der komischen Figur eines tugendhaften Philisters oder des „idealen Ehemanns"
geworden.
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