Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0930
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Heft 9
DOI article:Pringsheim, Klaus: Der Unfug der neudeutschen Tanzkunst
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Dolbin
diese Tendenz immer an dem herkömmlichen Vorsatz, Kunst als Mittel zum
materiellen Lebenszweck zu gebrauchen, scheitern müßte. Aber zu so harten
Folgerungen und Forderungen schwingen sie sich nicht auf in der damenhaften
Unlogik ihres Denkens. Doch das Leben zwingt sie zu dem Schluß, daß von den
unirdischen Strömen, die den tanzenden Körper durchfluten, dieser sich halt
nicht ernähren kann. Für die heraufkommenden Tänzer und Tänzerinnen, die
vom Tanz leben wollen, fehlt es an Beschäftigung. Die Zahl der neuen Berufs-
tänzer wächst, aber die Verlegenheit, für sie neue Tänzerberufe zu finden, wächst
zur Katastrophe. Tanzgruppenführer, Gemeinschaftslehrer und -leiter, das ist so
ein neuer Beruf; der einzige bis jetzt, und er setzt eine Majorität von Geführten,
ständigen Nachwuchs Lernender voraus. Den andern, der Majorität, den unab-
sehbar Vielen bleibt nur die Hoffnung, irgendwo im bestehenden Kunstbetrieb
unterzukommen und sich doch noch in seinen Wirtschaftsmechanismus ein-
schalten zu können; durchaus unter bewußter Zurückstellung eigener Ideen-
welten und unter Verzicht auf eigenschöpferische Tätigkeit. Ob und wie das
gelingt, ist kein ästhetisches und kein philosophisches Problem, sondern eine sehr
banale, sehr reale Tatsachenfrage.
So wenig wie ein Publikum hat der neue Tanz sich eine Kunstgattung oder eine
Kunststätte geschaffen. Als selbständige künstlerische Erscheinung hat er sich,
von Ausnahmen abgesehen, nicht durchgesetzt. Und die andern Künste zeigen
einstweilen wenig Neigung, am Einbau tänzerischen Wesens zu genesen. Einzige
Zuflucht, wie in den finstersten Zeiten des alten Balletts: das Operntheater. Letzte
Rettung: die paar Opern, in denen es zu tanzen gibt. Zehn, fünfzehn Minuten im
Lauf eines langen Abends; für musiklose Tanzeinlagen, durch die sie sich
verlängern ließen, ist die Oper nicht zu haben. Und hie und da vielleicht „Coppelia"
als Dreingabe; oder gar einmal, festliches Ausnahmeereignis, ein Strawinsky-
Ballett, „Petruschka" oder „Feuervogel"... Sehr viel ist nicht herauszuholen;
am Ende lohnte es doch nicht, dafür eine deutscheVolksbewegung zu inaugurieren.
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