Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Porteño: Irigoyen und Argentinien
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0996

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Sein Wille herrschte: allmächtig diktierte er seinen Anhängern, die natürlich
auch die Mehrheit im Parlament hatten, die Gesetze, die sie zu schaffen, die
Minister, die sie zu akzeptieren, die Interventionen, die sie zu approbieren hatten.
Ein Diktator, wenn man will, ein Besessener oder ein Genie. Die Lösung des
Rätsels war schwierig. Jedenfalls hatten ihn die Massen, die ihn als ihren Kan-
didaten anbeteten, schon nach einem Jahre zum größten Teil aufgegeben. Sein
Name allein war es, der eine so ungeheure Majorität auf die Liste seiner Partei
einte, wie sie selbst seine glühendsten Anhänger Tage vorher noch als Ausgeburt
der Phantasie, als Hirngespinst hingestellt hätten. Aber die nächsten Wahlen
werden zweifellos ein ganz anderes Resultat geben.
*
Argentinien liegt in Südamerika. Vergessen wirs nicht. Das unterscheidet sich
von Europa weit weniger als von Nordamerika. Das Land der Yankees ist uns,
kulturell, eine neue Welt. Lateinamerika nicht, zumal denen nicht, die Spanien und
Italien genauer kennen. Denn die verwandten Züge springen in die Augen, und
geistig ist es ganz auf Frankreich eingestellt. Auch in der „Reinen Wissenschaft".
Und die mehr oder weniger geschickten, immer eifrigen Bemühungen der deutsch-
argentinischen Kulturgesellschaft haben bis heute und werden auch künftig nur
ein sehr relatives Resultat geben.
Argentinien hat also kulturell noch kein eigenes Gepräge. Das ist auch ganz
logisch, stellen wir nur sein Alter in Rechnung. Heute ist alles noch Nach-
ahmung, und trotz manchem Gerede über „nationale" Kunst ist das Eigene noch
recht schwer zu entdecken. Wenn ein Maler argentinische Landschaften oder
Typen wiedergibt, so ist das natürlich noch keine „argentinische" Kunst, denn
die Schulen, die Methoden, das Sehen sind europäisch. Hiesige Autoren behandeln
„nationale" Stoffe. Meist aber handelt es sich dann nur um törichte Schwänke, in
denen ein „gringo" oder ein „gallego" (frischeingewanderter Spanier), manchmal
auch ein Deutscher, verulkt werden in ihren vergeblichen Bemühungen, „criollas"
zu sein.
Criolla: das ist der angebliche Typ des authentischen Argentiniers. Aber wie
weit gibts den? Der Argentinier ist doch im Grunde ein Europäer, in manchem
etwas weniger zivilisiert, meist etwas fauler, aber auch mit der einen und andern
guten Eigenschaft: Gastfreundschaft, Jovialität, angeborene Eleganz, Unbesorgt-
heit um den morgigen Tag, immer Don Juan und, trotz seines steten Lachens,
immer etwas griesgrämig, so daß echter Humor nicht aufkommt (nicht im
Kabarett, noch im Karneval usw.). Manche charakteristische Eigenschaften sind
eine Art Erbschaft vom„Gaucho": ein gewisser Dummstolz (der heute teilweise
in Chauvinismus ausartet), Rauflust und ein bißchen Respektlosigkeit der Frau
gegenüber.
Die Moral in Argentinien ist überhaupt etwas lax. Da haben wir z. B. als
schönste Tugend die Ehrlichkeit. Nicht als individuelle, sondern als nationale
Eigenschaft betrachtet. Man muß davon etwas wissen, um verstehen zu können, wie
es die Herren von Irigoyens Gnaden treiben mußten, um sogar die Argentinier aus
ihrer Ruhe zu bringen. Ehrlichkeit existiert zweifellos in Argentinien. Dem Näch-
sten gegenüber, auch im Geschäftlichen ist der Argentinier, im großen Ganzen,

652
 
Annotationen