Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1002
DOI issue:
Heft 10
DOI article:Moppès, Maurice van: New York, die leichte Enttäuschung
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NEW YORK, DIE LEICHTE
ENTTÄUSCHUNG
Von
MAURICE VAN MOPPES
Auf der Rückfahrt aus New York schrieb ich, mit großer Naivität, einen Stoß
Notizen nieder. In den ersten Nachmittagsstunden, da das Schiff gleichsam
verlassen scheint, da teils die Siesta, teils die Liebe die Passagiere in ihren Kabinen
zurückhält, schrieb ich gewissenhaft große Bogen mit New Yorker Beobachtun-
gen und Gedanken voll. In dem Maße, als das Schiff sich von New York entfernte,
brachten mich diese wohlgeschmierten Seiten zur Stadt zurück, dessen Namen
London, Rom und sogar Paris zu verdunkeln beginnt. Und nun, bei der Ankunft,
finde ich Morands New York, diesen intelligenten, lebhaften und eingehenden,
obschon unvollkommenen Baedeker vor, der meine armen, kleinen Skizzen hin-
fällig macht.
Wir haben schon so viele amerikanische Filme gesehen und so viele Bücher
ä la Morand, ä la Manhattan Transfer gelesen, daß wir die „wundervolle Manhattan-
Insel", wie ihre Einwohner sie nennen, schon kennen, bevor wir sie auch nur ein
einziges Mal besucht hätten. Sie ist im Begriffe, eines der großen Ziele künstle-
rischer und literarischer Pilgerfahrten zu werden, wie Florenz oder Athen. Nur,
daß wir statt der Angelico- und Leonardo-, statt der Sokrates- und Byron-
Reminiszenzen das Vergnügen haben, den auf Charlie jagenden Policeman, den
Bohlenzaun aus „Hundeleben" oder die Stiege, in der sich der flüchtende Harald
Lloyd versteckt hat, wiederzufinden. Es gibt nichts, vom Palais bis zum Brief-
kasten gar nichts, das wir nicht im voraus kennen würden, ebensogut, wie den
Dogen-Palast oder die Säulen des Parthenon.
Die Ankunft in New York, wie imposant sie auch sein mag, ist weniger groß-
artig, als man sie sich in der überhitzten Erwartung vorgestellt hatte. Venedig vom
Meer aus gesehen — das hat doch ein anderes Antlitz. Ja, diese Wolkenkratzer
sind im Grunde genommen doch nichts anderes als ein Haufen von Stockwerken
mit sehr vielen, ganz kleinen Fenstern, die eher an Wabenreihen als an babylo-
nische Konstruktionen erinnern. Indessen, keine Übertreibung! Diese Bauten, so
wie man sie an einem sonnigen Morgen aus dem von vielen Schiffen buntbevölkerten
Meer emporsteigen sieht, und dieser über den Wellen hörbare ungeheure Lärm
sind besser als die Tankstellen, die Fritüren-Händler und Zollbuden, die Paris
umlagern.
Es gibt Winkel in der Stadt, von denen Morand wenig spricht und die ich liebe.
Diese befinden sich in den häßlichen Stadtvierteln, wo es um überraschend alt-
modische Hochbahnstationen herum Straßen gibt, in denen man viele kleine rote
Häuser mit Dachböden sieht und manchen Fahrdamm, wo Kinder spielen und
wohin sich nie ein Auto verirrt. An der Straßenecke stehen verwegene Kerle, sie
stützen sich verächtlich auf die Schaufenster eines „drug store" und spucken dir
in wundervollem Bogen vor die Füße. Und so wird uns plötzlich ein altes Folklore
wieder lebendig: diese Brüder hier und dieser alte Mann, der sein Zugbrücken-
fenster aufmacht, um einen Passanten mit einem schrillen Pfiff herbeizurufen ...
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ENTTÄUSCHUNG
Von
MAURICE VAN MOPPES
Auf der Rückfahrt aus New York schrieb ich, mit großer Naivität, einen Stoß
Notizen nieder. In den ersten Nachmittagsstunden, da das Schiff gleichsam
verlassen scheint, da teils die Siesta, teils die Liebe die Passagiere in ihren Kabinen
zurückhält, schrieb ich gewissenhaft große Bogen mit New Yorker Beobachtun-
gen und Gedanken voll. In dem Maße, als das Schiff sich von New York entfernte,
brachten mich diese wohlgeschmierten Seiten zur Stadt zurück, dessen Namen
London, Rom und sogar Paris zu verdunkeln beginnt. Und nun, bei der Ankunft,
finde ich Morands New York, diesen intelligenten, lebhaften und eingehenden,
obschon unvollkommenen Baedeker vor, der meine armen, kleinen Skizzen hin-
fällig macht.
Wir haben schon so viele amerikanische Filme gesehen und so viele Bücher
ä la Morand, ä la Manhattan Transfer gelesen, daß wir die „wundervolle Manhattan-
Insel", wie ihre Einwohner sie nennen, schon kennen, bevor wir sie auch nur ein
einziges Mal besucht hätten. Sie ist im Begriffe, eines der großen Ziele künstle-
rischer und literarischer Pilgerfahrten zu werden, wie Florenz oder Athen. Nur,
daß wir statt der Angelico- und Leonardo-, statt der Sokrates- und Byron-
Reminiszenzen das Vergnügen haben, den auf Charlie jagenden Policeman, den
Bohlenzaun aus „Hundeleben" oder die Stiege, in der sich der flüchtende Harald
Lloyd versteckt hat, wiederzufinden. Es gibt nichts, vom Palais bis zum Brief-
kasten gar nichts, das wir nicht im voraus kennen würden, ebensogut, wie den
Dogen-Palast oder die Säulen des Parthenon.
Die Ankunft in New York, wie imposant sie auch sein mag, ist weniger groß-
artig, als man sie sich in der überhitzten Erwartung vorgestellt hatte. Venedig vom
Meer aus gesehen — das hat doch ein anderes Antlitz. Ja, diese Wolkenkratzer
sind im Grunde genommen doch nichts anderes als ein Haufen von Stockwerken
mit sehr vielen, ganz kleinen Fenstern, die eher an Wabenreihen als an babylo-
nische Konstruktionen erinnern. Indessen, keine Übertreibung! Diese Bauten, so
wie man sie an einem sonnigen Morgen aus dem von vielen Schiffen buntbevölkerten
Meer emporsteigen sieht, und dieser über den Wellen hörbare ungeheure Lärm
sind besser als die Tankstellen, die Fritüren-Händler und Zollbuden, die Paris
umlagern.
Es gibt Winkel in der Stadt, von denen Morand wenig spricht und die ich liebe.
Diese befinden sich in den häßlichen Stadtvierteln, wo es um überraschend alt-
modische Hochbahnstationen herum Straßen gibt, in denen man viele kleine rote
Häuser mit Dachböden sieht und manchen Fahrdamm, wo Kinder spielen und
wohin sich nie ein Auto verirrt. An der Straßenecke stehen verwegene Kerle, sie
stützen sich verächtlich auf die Schaufenster eines „drug store" und spucken dir
in wundervollem Bogen vor die Füße. Und so wird uns plötzlich ein altes Folklore
wieder lebendig: diese Brüder hier und dieser alte Mann, der sein Zugbrücken-
fenster aufmacht, um einen Passanten mit einem schrillen Pfiff herbeizurufen ...
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