Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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Heft 11
DOI article:Sarfatti, Margherita: Individualismus und Faschismus
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Chagall
Betätigung des Individuums. Es ist eine traurige und feierliche Notwendigkeit
des Lebens, daß Erkenntnis und Erfüllung von Pflichten auch noch Opfer oder
Einbuße an Rechten erfordert.
Aus dem Kriege geboren, hat der Faschismus weiter gewirkt und steht nun
vor der Erfüllung der großen, notwendigen und schicksalsschweren geschicht-
lichen Aufgabe, die Individuen in dem großen Schmelztiegel nationaler Einheit
und Gleichheit zusammenzuschweißen. Fünfzig Jahre eines geeinigten König-
reiches Italien und der Weltkrieg haben dieses Werk vorbereitet. Der Krieg
beschleunigte die Entwicklung. Der Faschismus steht im Begriff, den „Italiener
zu schaffen" wie Massimo d'Azeglio sagte. Während der Faschismus den zügel-
losen, verführerischen und zersetzenden Individualismus unterdrückt und ihn
im Namen des Staats- und Vaterlandsgedankens zu konzentrierter Einheit ver-
schmelzen will, reinigt er andererseits den Begriff Mensch (als Individuum im
höheren Sinne), unabhängig von jeder persönlichen Interessiertheit an seiner
technischen, beruflichen, moralischen und geistigen Persönlichkeit.
Es handelt sich wohlverstanden nicht um eine abscheuliche Standardisierung
oder um eine Mechanisierung des Individuums um jeden Preis. Die faschistische
Regierung sorgte vielmehr dafür, daß die Provinzverwaltungen respektiert
ja sogar gestützt wurden: repräsentierten sie doch die Urzelle, aus welcher der
italienische Staats- und Verwaltungsorganismus hervorgegangen war! Der
Faschismus verlieh ihnen Amt und Würden, so daß sie nur der obersten Zentral-
behörde Rechenschaft abzulegen brauchten. Jetzt können sie in angemessener
Weise für die materiellen und moralischen Bedürfnisse jeder einzelnen Provinz
Sorge tragen, während sie früher Diener vieler Herren waren und von einer
chaotisch-widerspruchsvollen Masse abhingen.
In früheren Zeiten besaßen weder die Fremdherrschaft noch die Lokal-
regierungen (wie etwa diejenige „beider Sizilien") genügend Autorität und
Prestige, um dem Volk den Begriff des Staates geschweige denn den des Vater-
landes, das als Kollektivideal zu lieben und gegebenenfalls mit Opfern zu ver-
teidigen, Pflicht ist, klar machen zu können. Andererseits konnte man nicht
nach dem Satze handeln: „Jeder für sich und — der Teufel hole den Nächsten",
weil die Familie im altrömischen Sinne mit ihren zahllosen Beziehungen und
Beeinflussungen, mit ihren starken Bindungen von Gefühlen, Neigungen und
Interessen den Kern jener individualistischen Gesellschaft bildete und eine
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