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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 11
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Aniante, Antonio: Sommer in Malafede
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1111
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Bis zum späten Nachmittag lebt dort alles in gespannter Erwartung der
halbnackten Sprengmannschaften. Wenn dann die Straßen nach dem künstlichen,
von der Stadtverwaltung gelieferten Regen riechen, erscheinen die Equipagen
der vornehmen Welt und die großen stinkenden Automobile der Bürger auf der
drei Kilometer langen Hauptstraße. In toller Fahrt rasen sie an den bis zu den
Zähnen bewaffneten Fußgängern vorüber, ohne bei ihnen irgendwelche Panik
hervorzurufen.
Die hundert Kirchen füllen sich mit der ärmeren Bevölkerung, die Kühle
sucht und kein Geld hat, um sich ein Eis oder eine Wassermelone zu gönnen.
Schöne Burschen mit samtenen Mandelaugen, in weißen Flanell gekleidet, ein
blankes Rohrstöckchen unter die schwitzende Achsel geklemmt, schlendern mit
großen müßigen Schritten einher. Auf den zu ebener Erde gelegenen Tanzböden
suchen sie nach Liebeshändeln.
Auf den frischbesprengten Terrassen der Cafes tanzen die Kleinbürger, die die
kleinen Tische besetzt haben, Walzer. Die Aristokraten und diejenigen, die lesen
und schreiben können, gleiten im Tangoschritt in die dunkelsten Ecken der alten
Eisläden; sie sind sich bewußt, daß das nachmittägliche Zusammentreffen
mit einer Schokoladenbombe ein heiliger Brauch ist, der nicht das geringste
mit dem Vergnügen der Plebejer zu tun hat, obgleich beide denselben
Anlaß haben.
In Malafede gibt es die schönsten Frauen Europas : verführerisch und sterblich,
geschmeidig und olympisch und ihrer legendenhaften dreißig Jahre sicher. Das
mit Eiweiß behandelte Gesicht einer solchen Frau darf nur von ihrem Gatten
befleckt werden, der meist ein nervöser Lockenkopf ist und mächtig pafft. In der
Dämmerstunde gehen sie in den geheimnisvollen Schatten der Kathedrale, um
dort ihr Eis zu essen. Der kleine Hof des Eishändlers ist kühl und feucht. Der
arabische Jasmin duftet von den Mauern, die von Malern angestrichen wurden,
deren Arme Tätowierungen von den Galeeren der Küstenschiffe und Zucht-
häusern tragen. Von Nonnen begleitet, überschreiten Klosterschülerinnen eilig
den Hof. Sie verschwinden in dem großen Saal. Dort erhält die fromme verzückte
Gemeinde von dem alten Pasquale, der im Mittelpunkt der Kathedrale St. Agathe
haust, jeden Abend ihr Pistazien-, Vanille- und Mandeleis. Den Demokraten ist
es verboten, das Gotteshaus zu betreten, ihnen ist der Saal in der Mitte verschlos-
sen — zu ihm hat nur der Adel und die Geistlichkeit Zutritt.
Dank ihrer unendlich verführerischen Schönheit überschreiten auch Frauen
plebejischer oder semitischer Abstammung triumphierend die Schwelle zu dieser
eifersüchtig behüteten Versammlung.
Die Mauern, Fußböden und Lichtnischen scheinen mit narkotischen Mitteln
getränkt zu sein.
Ein lasterhafter Hauch von sinnlichem Verlangen, der vom Duft der Lilien
und arabischen Blüten durchsetzt scheint, erregt die internationale Menge, die an
diesem geheiligten Eisladen vorbeiflutet. Die Drehorgeln streuen ihre Weisen wie
Tuberosen auf die Straßenbahnschienen, und die reichen Kaufleute aus Malta und
Smyrna bieten Pasquale, dem „Grobian", große Summen, um in dem kleinen
Hof zwischen den von Diebeshänden bemalten Mauern ein Eis verzehren zu
dürfen. Aber Pasquale bleibt unerbittlich. Sogar der Herr Bürgermeister muß sich

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