Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1134
DOI issue:
Heft 11
DOI article:da Silva, Mario: Italienische Literatur heute
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Schön, bis hierher habe ich von Polemiken gesprochen, was soviel heißen will,
wie von literarischem Klatsch. Die Literatur ist wie ein Froschteich: kaum fliegt
ein Stein hinein, so springen alle Frösche heraus und setzen sich ans Ufer. Das
ist der richtige Augenblick für eine Statistik, die in meinem Falle allerdings
recht mangelhaft ist. Aber niemand wird sich vermessen, auf vier Seiten ein Bild
der zeitgenössischen italienischen Literatur geben zu wollen.
Was in der Literatur zählt, sind nicht die Polemiken und Gesten, sondern
merkwürdigerweise die Werke. Und da der Zeitpunkt der Polemiken vorüber
ist, haben sich die Italiener darüber geeinigt, daß, genau wie auf politischem
Gebiet, die beste Art der Erneuerung darin besteht, das endlose Diskutieren
aufzugeben und sich an die Arbeit zu setzen: nämlich Bücher zu schreiben. Was
das betrifft, so haben sich die „Novecentisten" wohl gehütet, die gute stilistische
Tradition zu verachten, und die „Strapaesani" nicht minder, die Forderungen
der Zeit zu verkennen.
Viele Ausländer glauben, weil Italien einen neuen Typus politischer und
sozialer Kultur schaffe, könne es sich nicht um die Kunst kümmern, und seine
Literatur sei deshalb in Verfall geraten. Diese verfehlte Ansicht entstammt dem
romantischen Vorurteil, der Künstler dürfe sich mit nichts anderem als seiner
Kunst beschäftigen und müsse das Haus hüten, um zu meditieren. Wenn sich
einer mit Politik befaßt, könne er keine Gedichte schreiben, und wenn er heiratet,
keine Romane. Der Genius als Trapist.
Demgegenüber kann man ruhig behaupten, daß die gegenwärtige italienische
Literatur Werke von großer Originalität und von unbestreitbarem Wert aufweist,
welche die Fremden zu Unrecht nicht kennen. Es ist eine junge, ausgelassene,
vorurteilsfreie, eigensinnige und kühne Literatur. Sie will auf die Lockungen
der obligaten Themen kosmopolitischer Literatur nicht hören und zieht es vor,
den Stoff in sich selbst zu suchen, an dem sie sich inspirieren kann. Sie ver-
schmäht die internationale Brillantine, und deshalb glauben manche, sie komme
nicht vorwärts. Sie hat ihren eigenwilligen Charakter, der sie in jenen Literatur-
Zirkeln verhaßt macht, deren Aufgabe es ist, irgend eine revolutinär erscheinende
Mode zu kreieren, um sie sogleich wieder zu bekämpfen, sobald sie Gläubige
findet. Unverzeihlich erscheint vor allem ihre Eigenbrötelei und ihre Manier,
zu den Tanz-Tees der europäischen Literatur einen Fiasko Wein mitzubringen,
der ihr besser schmeckt.
Schlimm, bei Gott. Und Grund genug für den Schreiber dieser Zeilen, beim
flüchtigen Zitieren einiger Namen nicht auf jene extrem-synthetischen Adjektive
zu verfallen, die für alle diejenigen taugen, die zu den Namen auch eine Gebrauchs-
anweisung wünschen. Der deutsche Leser, der sich gründlich Rechenschaft
von den Tendenzen der zeitgenössischen italienischen Literatur geben will, wird
sich stets mit Nutzen an die einschlägigen Bücher wenden. Und wer die Hervor-
bringungen des neuen literarischen Italiens richtig beurteilen will, wird gut tun,
die zahlreichen Werke der hier genannten und nicht genannten Autoren selber
zu lesen. Für die Kunstästhetik aller Zeiten ist mir nicht gelungen, eine bessere
Methode zu finden. — Schade.
(Deutsch von Cyril Malo)
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wie von literarischem Klatsch. Die Literatur ist wie ein Froschteich: kaum fliegt
ein Stein hinein, so springen alle Frösche heraus und setzen sich ans Ufer. Das
ist der richtige Augenblick für eine Statistik, die in meinem Falle allerdings
recht mangelhaft ist. Aber niemand wird sich vermessen, auf vier Seiten ein Bild
der zeitgenössischen italienischen Literatur geben zu wollen.
Was in der Literatur zählt, sind nicht die Polemiken und Gesten, sondern
merkwürdigerweise die Werke. Und da der Zeitpunkt der Polemiken vorüber
ist, haben sich die Italiener darüber geeinigt, daß, genau wie auf politischem
Gebiet, die beste Art der Erneuerung darin besteht, das endlose Diskutieren
aufzugeben und sich an die Arbeit zu setzen: nämlich Bücher zu schreiben. Was
das betrifft, so haben sich die „Novecentisten" wohl gehütet, die gute stilistische
Tradition zu verachten, und die „Strapaesani" nicht minder, die Forderungen
der Zeit zu verkennen.
Viele Ausländer glauben, weil Italien einen neuen Typus politischer und
sozialer Kultur schaffe, könne es sich nicht um die Kunst kümmern, und seine
Literatur sei deshalb in Verfall geraten. Diese verfehlte Ansicht entstammt dem
romantischen Vorurteil, der Künstler dürfe sich mit nichts anderem als seiner
Kunst beschäftigen und müsse das Haus hüten, um zu meditieren. Wenn sich
einer mit Politik befaßt, könne er keine Gedichte schreiben, und wenn er heiratet,
keine Romane. Der Genius als Trapist.
Demgegenüber kann man ruhig behaupten, daß die gegenwärtige italienische
Literatur Werke von großer Originalität und von unbestreitbarem Wert aufweist,
welche die Fremden zu Unrecht nicht kennen. Es ist eine junge, ausgelassene,
vorurteilsfreie, eigensinnige und kühne Literatur. Sie will auf die Lockungen
der obligaten Themen kosmopolitischer Literatur nicht hören und zieht es vor,
den Stoff in sich selbst zu suchen, an dem sie sich inspirieren kann. Sie ver-
schmäht die internationale Brillantine, und deshalb glauben manche, sie komme
nicht vorwärts. Sie hat ihren eigenwilligen Charakter, der sie in jenen Literatur-
Zirkeln verhaßt macht, deren Aufgabe es ist, irgend eine revolutinär erscheinende
Mode zu kreieren, um sie sogleich wieder zu bekämpfen, sobald sie Gläubige
findet. Unverzeihlich erscheint vor allem ihre Eigenbrötelei und ihre Manier,
zu den Tanz-Tees der europäischen Literatur einen Fiasko Wein mitzubringen,
der ihr besser schmeckt.
Schlimm, bei Gott. Und Grund genug für den Schreiber dieser Zeilen, beim
flüchtigen Zitieren einiger Namen nicht auf jene extrem-synthetischen Adjektive
zu verfallen, die für alle diejenigen taugen, die zu den Namen auch eine Gebrauchs-
anweisung wünschen. Der deutsche Leser, der sich gründlich Rechenschaft
von den Tendenzen der zeitgenössischen italienischen Literatur geben will, wird
sich stets mit Nutzen an die einschlägigen Bücher wenden. Und wer die Hervor-
bringungen des neuen literarischen Italiens richtig beurteilen will, wird gut tun,
die zahlreichen Werke der hier genannten und nicht genannten Autoren selber
zu lesen. Für die Kunstästhetik aller Zeiten ist mir nicht gelungen, eine bessere
Methode zu finden. — Schade.
(Deutsch von Cyril Malo)
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