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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 12
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Rudinoff, Willy: Wedekind unter den Artisten
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1218

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Als ich in der Quarta war hatte ich einen Freund, der hieß Charly und war in
Chicago zur Welt gekommen. Er hatte nie andere Indianer gesehen als solche,
die man für zehn Cent in den „Dime-Museums" in Amerika zu sehen bekommt,
erzählte uns aber Lederstrumpf-Geschichten mit Marterpfählen, Tomahawks und
Skalpierungen, die er erlebt zu haben vorgab. Ebensowenig wie mein Freund
Charly aus Chicago die Indianer, kannte mein Freund Frank Wedekind die Zirkus-
artisten. Die einzigen Zirkusleute, die er je kennengelernt hatte, waren der
russische Clown Douroff und ein gewisser Techow, ein früherer Akrobat, der
wegen eines Unfalls, den er bei seiner Akrobatennummer gehabt hatte, seine
Arbeit aufgeben mußte und nun ein sehr hoch bezahlter Katzendresseur geworden
war. Ich stellte diese beiden Leute Wedekind vor, als er mich vor dem Bühnen-
eingang des Zirkus erwartete. Seine Bekanntschaft mit diesen in ihrer Art durch-
aus gebildeten, taktvollen, hochanständigen, gut erzogenen und wirtschaftlich
unabhängigen Männern dauerte nicht länger als zehn Minuten. Dann gaben sie
ihm durch die Art ihrer Antworten zu verstehen, daß ihnen an einer Fortsetzung
der Unterhaltung mit dem „poete allemand" wenig gelegen sei. Wedekind ver-
stand es nicht, den Ton zu treffen, den man anschlagen muß, um einen Zirkus-
menschen zum Reden zu bringen. Er spielte den „Leutseligen" und trat an diese
sehr klugen und sehr feinfühligen Lebenskünstler heran, als ob er ein deutscher
Gymnasialprofessor wäre, der mit der komischen Würde des pedantischen Bücher-
gelehrten das Gehirnvolumen dressierter Gorillas mit dem Tastzirkel ausmessen
will. Douroff lachte ihn aus und versicherte, daß er Wedekind in einem seiner
Clown-,,Entrees" verwenden wolle. Frank tat Unrecht, eine Gruppe von Men-
schen, die ihm gar nicht bekannt waren, als „Gelichter" zu beschimpfen. Die
einzige Balletteuse, die er kennengelernt hat, war wohl die, bei welcher er
„Unterricht in der Schauspielkunst" nahm!
Wedekind wäre gern ein kühner Abenteurer gewesen! Am liebsten ein
Casanova! Vielleicht auch ein Salvator Rosa, der mit Räubern herumzog, oder ein
Lebensgigant wie Goya, der mit einer Stierfechter-Quadrilla lebte und selbst als
Matador in die Arena trat. Ach, du lieber Gott! Hierzu fehlte ihm rein alles! Kraft,
Schönheit, Vitalität, Lebensgewandtheit, gesundes Denken und nicht zuletzt —
jeder Mut! Am besten hätte er sich noch zu einem Gymnasialprofessor geeignet,
der mit dem Stammtischvorsitz in der qualmigen Weinstube eines Mittelstands-
restaurants betraut wird. Er war eine Art modernen Don Quixotes im Westen-
taschenformat, der gegen eine Herde von Schafen in den Krieg zog und mit
ihrem Leithammel Wortgefechte führte. Er fühlte sich meistens durch das „Mäh-
mäh-mäh" des immer etwas unter hohem Blutdruck stehenden Herdenleiters tief
beleidigt und wurde mindestens auf drei Wochen mit ihm „böse"!
Wenn man den Dichter Otto Erich Hartleben einen „ewigen Studenten"
nannte, so kann man Wedekind vielleicht als einen ewigen Gymnasiasten ansprechen.
Er schien mir ein Obersekundaner zu sein, der, während der Herr Professor
römische Geschichte doziert, halb unter dem Tisch, halb auf seinen Knien die
Novellen des Boccaccio liegen hat. Ich konnte beobachten, wie er sich, noch als
würdiger Familienpapa, nach dem Muster dieses Lehrbuchs Situationen für seinen
Privatgebrauch konstruierte und sie, wie ein raffinierter Abbe aus der Fragonard-
zeit, in Szene zu setzen versuchte.

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