Schöffen das Verzeichnis der Fragen vorlas und mit den Worten begann: „Ist
der Angeklagte Emile Zola schuldig ..." — unterbrachen ihn mehrere Stimmen
aus dem Publikum mit lärmenden Ausrufen: „Jawohl! Jawohl! Er ist schuldig!
Er ist schuldig!"
Acht Tage lang dauerte die eigentliche Gerichtsverhandlung, und die übrigen
fünf Tage füllten die Reden der Verteidiger und Ankläger aus. Zola hatte drei
Verteidiger: den Rechtsanwalt Labori, Albert Clemenceau und Georges Cle-
menceau. Der letztgenannte nahm an den Verhandlungen bis zum letzten Tage
nicht teil, damit er Gelegenheit hätte, das letzte Plaidoyer zu halten. Sowohl die
Richter als die Schöffen waren Zola gegenüber feindlich gestimmt. Dazu waren
sie noch durch die Presse und Menge terrorisiert und nicht zuletzt durch die
Generale, die als Zeugen auftraten. Labori legte eine außergewöhnliche Geschick-
lichkeit an den Tag, aber das genügte durchaus nicht. Sollte die ungünstige
Stimmung durchbrochen und den Schöffen ein Freispruch abgezwungen werden,
hätte etwas Übernatürliches, irgendein Wunder geschehen müssen. Und eben
dieses Wunder erwartete man von der Schlußrede Clemenceaus.
Zu jener Zeit stand Clemenceau abseits der politisch-parlamentarischen Tätig-
keit. Es war gerade einige Jahre nach dem berüchtigten Panama-Skandal, der den
genialen Lesseps und eine ganze Reihe bekannter Persönlichkeiten der politischen
Welt kompromittierte. Ein Kotstrahl dieser schmutzigen Affäre bespritzte auch
Clemenceau. Es kam nämlich an den Tag, daß Clemenceau vom Hauptschuldigen
der Panama-Affäre, Cornelius Hertz (der Selbstmord verübte), eine ansehnliche
Geldsumme — wenn ich nicht irre: 100 000 Franken — zwecks Gründung
einer Tageszeitung erhalten hatte. Und obwohl alle, die Clemenceau kannten,
überzeugt waren, daß er mit dem Riesenbetrug des Cornelius Hertz und seiner
Compagnons nichts gemein hatte, wiewohl Clemenceau selbst in seinem Organ
die Panama-Affäre weder unterstützte noch verteidigte, fiel auf ihn ein gewisser
Schatten, und seine Gegner benutzten sofort die Gelegenheit, seine angebliche
Gemeinschaft mit der Affäre derart aufzubauschen, daß sich Clemenceau zuletzt
gezwungen sah, seinen parlamentarisch-politischen Wirkungskreis auf längere
Zeit zu verlassen. Während vier bis fünf Jahren hielt Clemenceau keine einzige
öffentliche Rede. Sein Auftreten im Dreyfus-Prozeß sollte daher eine Rückkehr
zur politischen Aktivität bedeuten.
Laboris Verteidigungsrede dauerte volle dreißig Stunden! Trotz der Lang-
wierigkeit der Rede und der allgemeinen höchst ungünstigen Stimmung fesselte
Labori die Aufmerksamkeit aller Anwesenden, indem er sie zwang, ihn geduldig
anzuhören. Die Franzosen haben eine Vorliebe für vorzügliche Reden. Ich selbst
hörte einen überzeugten Dreyfus-Gegner unter dem Eindruck von Laboris
Plaidoyer sagen: „Mais il parle tres bien!" Wohl hörte man ihn zu Ende, jedoch
gelang es ihm nicht, die Stimmung der Richter und Schöffen zu ändern. Nun
blieb die allerletzte Hoffnung: Clemenceau.
Clemenceau in seinem abgewetzten Rock näherte sich ruhig der Verteidiger-
tribüne und begann in einfachem, alltäglichen Tone zu sprechen, ohne irgend-
welche Einfälle oder Belebtheit zu zeigen, so etwa wie man zu einem Bekannten
spricht, dem man zufällig auf der Straße begegnet. Wovon spricht Clemenceau?
Er beginnt die Dreyfus-Angelegenheit von Anfang an zu erzählen, worüber schon
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der Angeklagte Emile Zola schuldig ..." — unterbrachen ihn mehrere Stimmen
aus dem Publikum mit lärmenden Ausrufen: „Jawohl! Jawohl! Er ist schuldig!
Er ist schuldig!"
Acht Tage lang dauerte die eigentliche Gerichtsverhandlung, und die übrigen
fünf Tage füllten die Reden der Verteidiger und Ankläger aus. Zola hatte drei
Verteidiger: den Rechtsanwalt Labori, Albert Clemenceau und Georges Cle-
menceau. Der letztgenannte nahm an den Verhandlungen bis zum letzten Tage
nicht teil, damit er Gelegenheit hätte, das letzte Plaidoyer zu halten. Sowohl die
Richter als die Schöffen waren Zola gegenüber feindlich gestimmt. Dazu waren
sie noch durch die Presse und Menge terrorisiert und nicht zuletzt durch die
Generale, die als Zeugen auftraten. Labori legte eine außergewöhnliche Geschick-
lichkeit an den Tag, aber das genügte durchaus nicht. Sollte die ungünstige
Stimmung durchbrochen und den Schöffen ein Freispruch abgezwungen werden,
hätte etwas Übernatürliches, irgendein Wunder geschehen müssen. Und eben
dieses Wunder erwartete man von der Schlußrede Clemenceaus.
Zu jener Zeit stand Clemenceau abseits der politisch-parlamentarischen Tätig-
keit. Es war gerade einige Jahre nach dem berüchtigten Panama-Skandal, der den
genialen Lesseps und eine ganze Reihe bekannter Persönlichkeiten der politischen
Welt kompromittierte. Ein Kotstrahl dieser schmutzigen Affäre bespritzte auch
Clemenceau. Es kam nämlich an den Tag, daß Clemenceau vom Hauptschuldigen
der Panama-Affäre, Cornelius Hertz (der Selbstmord verübte), eine ansehnliche
Geldsumme — wenn ich nicht irre: 100 000 Franken — zwecks Gründung
einer Tageszeitung erhalten hatte. Und obwohl alle, die Clemenceau kannten,
überzeugt waren, daß er mit dem Riesenbetrug des Cornelius Hertz und seiner
Compagnons nichts gemein hatte, wiewohl Clemenceau selbst in seinem Organ
die Panama-Affäre weder unterstützte noch verteidigte, fiel auf ihn ein gewisser
Schatten, und seine Gegner benutzten sofort die Gelegenheit, seine angebliche
Gemeinschaft mit der Affäre derart aufzubauschen, daß sich Clemenceau zuletzt
gezwungen sah, seinen parlamentarisch-politischen Wirkungskreis auf längere
Zeit zu verlassen. Während vier bis fünf Jahren hielt Clemenceau keine einzige
öffentliche Rede. Sein Auftreten im Dreyfus-Prozeß sollte daher eine Rückkehr
zur politischen Aktivität bedeuten.
Laboris Verteidigungsrede dauerte volle dreißig Stunden! Trotz der Lang-
wierigkeit der Rede und der allgemeinen höchst ungünstigen Stimmung fesselte
Labori die Aufmerksamkeit aller Anwesenden, indem er sie zwang, ihn geduldig
anzuhören. Die Franzosen haben eine Vorliebe für vorzügliche Reden. Ich selbst
hörte einen überzeugten Dreyfus-Gegner unter dem Eindruck von Laboris
Plaidoyer sagen: „Mais il parle tres bien!" Wohl hörte man ihn zu Ende, jedoch
gelang es ihm nicht, die Stimmung der Richter und Schöffen zu ändern. Nun
blieb die allerletzte Hoffnung: Clemenceau.
Clemenceau in seinem abgewetzten Rock näherte sich ruhig der Verteidiger-
tribüne und begann in einfachem, alltäglichen Tone zu sprechen, ohne irgend-
welche Einfälle oder Belebtheit zu zeigen, so etwa wie man zu einem Bekannten
spricht, dem man zufällig auf der Straße begegnet. Wovon spricht Clemenceau?
Er beginnt die Dreyfus-Angelegenheit von Anfang an zu erzählen, worüber schon
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