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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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Valéry, Paul: Von der Dichtkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0139

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Alle die Eigenschaften, die von dem sprechenden Menschen „bezeichnet"
werden, werden von der Dichtkunst geprüft und verwirklicht, „gegeben".
Auch das „Fluidum" der Stimme muß in der geheimnisvollen, mehr-als-nur-
entsprechenden Verbindung der Gedanken und Worte wiederkehren. — Daß
der schöne Klang daure, bleibt stets wesentlich.
Die geringste Feilung — und jenes „Folge dem Geiste!" ist dahin. Der Ver-
stand verlöscht die Spur des vernunftlosen schaffenden Gottes. Der Verstand
muß im Spiele sein, sollen anders nicht Ungeheuer hervorgehen. Wer aber soll
das Maß angeben? Tut es der Verstand, so herrscht er. Oder kann eine ganz
blinde Kraft vorherrschen?
Wie beschämend: man schreibt und weiß nicht, was Sprache, Wort, Bild,
Modulation von Gedanken und Klang sind. Man begreift nicht den „Bau" seines
Werkes, so lang es fließt, noch auch, was es beendigt. Kaum daß man merkt,
wie es zugeht, und dies keineswegs im Einzelnen. Man errötet: man ist ein
„Orakel".
Auch wenn wir Prosa schreiben, leitet und nötigt uns irgend etwas, das
niederzuschreiben, was wir nicht gewollt haben, das, was sich durch uns nieder-
schreiben will.
Dem „Gereimten" blüht das große Glück, die Einfalt in Harnisch zu bringen,
die da glaubt, es gebe auf Erden etwas, was an Bedeutung über die Konvention
hinausgeht. Der Reim ist die dauernde innere Verfassung des Gegenstandes,
sein Gesetz. Er tönt außerhalb wie eine Uhr.
Ein Gedicht aufzubauen aus einem bloß dichterischen Stoffe: unmöglich!
Verstärkt sich die schöpferische Einbildung und hält sie vor, so bildet sie
aus sich heraus Organe, Zwecke, Ordnungen, Ausdruck: alles Mittel der eigenen
Erhaltung und Sicherung. Was Einfall war, das ordnet sich: was Zufall war,
baut sein Haus. Denn nur das kann sich behaupten über den Augenblick hinaus,
was den Stoff in sich hat, die Augenblicke zur Dauer zu summieren.
Darin liegt die Würde des Verses: ein einziges gefehltes Wort zerstört alles.
Rin gelungenes Wort ist die Transformation, eine neue Gleichung, eines
verfehlten Werkes. Eine Sache verfehlen heißt also: sie aufgegeben haben.
Ein Gedicht ist niemals vollendet, es wird immer beendigt durch ein zufälliges
Geschehen. — Vollendung: Das Intregale der Arbeit.

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