Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0242
DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:Tschuppik, Karl: Prag und die Prager
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0242
hatte errichten lassen. Der zweite Symbolakt: Man tilgte den Glorienschein des
katholischen Landespatrons, des heiligen Johannes von Nepomuk.
Als Goethe, von Franzensbad kommend, die böhmische Hauptstadt besuchte,
fing er in einem kleinen Gedicht den Lichterglanz dieses malerischen Prager Festes
auf. An jedem 16. Mai hatte sich, fast zwei Jahrhunderte lang, das Schauspiel
wiederholt. Ein Märchen aus dem Zaubergarten der Jesuiten. Der Heilige, dem
die Andacht, die Ovationen, das kostspielige Feuerwerk der Stadt Prag galten,
dem mit Chören und Blumen, mit Aufzügen, nächtlichen Moldaufahrten, leuch-
tenden Raketen und Lampions gehuldigt wurde — dieser Heilige hat niemals
existiert. Johannes von Nepomuk, als der „Brücken-Heilige" auch im katholischen
Deutschland populär, war in Prag erfunden worden. Unter der Brücke Karls IV.
haben die Dichter der Legende „den Beichtvater der Königin" sterben lassen.
Sein Standbild bezeichnet noch heute die Stelle, wo ihn die Erfinder in den Fluten
der Moldau begruben.
Das Seltsame an der Faszination dieser Dichtung: Sie war im Volke ebenso
lebendig wie ihr Gegenpol, der Gedenktag der Schlacht am Weißen Berge.
*
Um es gleich zu sagen: Man ist in Prag verloren, wenn man nicht Geschichte
kennt. In Berlin genügt die Blickweite bis zu Friedrich II. Das Paris von heute
datiert von der Großen Revolution, von Napoleon. In Wien hatte man nach 1866
die Geschichte, als Erinnerung an unangenehme Ereignisse, sozusagen amtlich
begraben. Es gab keine Zukunft mehr, aber auch keine Vergangenheit. In Prag
waren der 23. Mai (1618) und der 8. November (1620) Daten lebendigster Bedeu-
tung, Nationalfeiertage.
Ich stand einmal auf dem Altstädter Platz, vor dieser grandiosen Kulisse
historischer Dramen, einem Fremden jene Stelle zeigend, wo nach der Schlacht
am Weißen Berg, die Führer der protestantischen Stände, Adelige und Prager
Bürger, enthauptet worden sind. Ein Mann der Gasse, der mir zugehört, wurde
plötzlich sehr heftig: „So etwas ist nur in diesem Staate möglich!" Und nun kam
eine wilde Anklage gegen die „Ligisten", gegen Ferdinand II., der den Majestäts-
brief Kaiser Rudolf II. nicht geachtet habe, nicht die von Matthias verbriefte
Religionsfreiheit...
Wann lebte Kaiser Matthias? Der Mann wußte es genau: 1576 bis 1619. Er
selber lebte und ereiferte sich im sechzehnten Jahrhundert.
Das kaiserliche Wien hat nie geahnt, woraus die rebellischen Völker der Mon-
archie die Energie ihres Widerstandes schöpften. Ein Blick in die Ratsstube des
Prager Schlosses, aus dessen Fenster am 23. Mai 1618 die kaiserlichen Räte
Slawata, Martinitz und Fabricius in den Schloßgraben geschleudert wurden, hätte
den geschichtlichen Anschauungsunterricht als stete Quelle der Rebellion ent-
hüllt. Es gab keinen größeren Symbolakt der großen Geschichte als diesen Fenster-
wurf. Der Blitz vor dem dreißig Jahre währenden Gewitter. Alljährlich standen
Tausende Schüler, Väter und Lehrer in der Ratsstube voll Bewunderung für
die große Geste dieses Akts. Wie die meisten pathetischen Begebenheiten der
böhmischen Geschichte hatte auch das Bild des Fenstersturzes ein ironisches
Schwänzchen. Den drei kaiserlichen Räten, die in den tiefen Schloßgraben fielen,
ist bekanntlich nichts geschehen. Eine alte österreichische Gewohnheit, erledigte
152
katholischen Landespatrons, des heiligen Johannes von Nepomuk.
Als Goethe, von Franzensbad kommend, die böhmische Hauptstadt besuchte,
fing er in einem kleinen Gedicht den Lichterglanz dieses malerischen Prager Festes
auf. An jedem 16. Mai hatte sich, fast zwei Jahrhunderte lang, das Schauspiel
wiederholt. Ein Märchen aus dem Zaubergarten der Jesuiten. Der Heilige, dem
die Andacht, die Ovationen, das kostspielige Feuerwerk der Stadt Prag galten,
dem mit Chören und Blumen, mit Aufzügen, nächtlichen Moldaufahrten, leuch-
tenden Raketen und Lampions gehuldigt wurde — dieser Heilige hat niemals
existiert. Johannes von Nepomuk, als der „Brücken-Heilige" auch im katholischen
Deutschland populär, war in Prag erfunden worden. Unter der Brücke Karls IV.
haben die Dichter der Legende „den Beichtvater der Königin" sterben lassen.
Sein Standbild bezeichnet noch heute die Stelle, wo ihn die Erfinder in den Fluten
der Moldau begruben.
Das Seltsame an der Faszination dieser Dichtung: Sie war im Volke ebenso
lebendig wie ihr Gegenpol, der Gedenktag der Schlacht am Weißen Berge.
*
Um es gleich zu sagen: Man ist in Prag verloren, wenn man nicht Geschichte
kennt. In Berlin genügt die Blickweite bis zu Friedrich II. Das Paris von heute
datiert von der Großen Revolution, von Napoleon. In Wien hatte man nach 1866
die Geschichte, als Erinnerung an unangenehme Ereignisse, sozusagen amtlich
begraben. Es gab keine Zukunft mehr, aber auch keine Vergangenheit. In Prag
waren der 23. Mai (1618) und der 8. November (1620) Daten lebendigster Bedeu-
tung, Nationalfeiertage.
Ich stand einmal auf dem Altstädter Platz, vor dieser grandiosen Kulisse
historischer Dramen, einem Fremden jene Stelle zeigend, wo nach der Schlacht
am Weißen Berg, die Führer der protestantischen Stände, Adelige und Prager
Bürger, enthauptet worden sind. Ein Mann der Gasse, der mir zugehört, wurde
plötzlich sehr heftig: „So etwas ist nur in diesem Staate möglich!" Und nun kam
eine wilde Anklage gegen die „Ligisten", gegen Ferdinand II., der den Majestäts-
brief Kaiser Rudolf II. nicht geachtet habe, nicht die von Matthias verbriefte
Religionsfreiheit...
Wann lebte Kaiser Matthias? Der Mann wußte es genau: 1576 bis 1619. Er
selber lebte und ereiferte sich im sechzehnten Jahrhundert.
Das kaiserliche Wien hat nie geahnt, woraus die rebellischen Völker der Mon-
archie die Energie ihres Widerstandes schöpften. Ein Blick in die Ratsstube des
Prager Schlosses, aus dessen Fenster am 23. Mai 1618 die kaiserlichen Räte
Slawata, Martinitz und Fabricius in den Schloßgraben geschleudert wurden, hätte
den geschichtlichen Anschauungsunterricht als stete Quelle der Rebellion ent-
hüllt. Es gab keinen größeren Symbolakt der großen Geschichte als diesen Fenster-
wurf. Der Blitz vor dem dreißig Jahre währenden Gewitter. Alljährlich standen
Tausende Schüler, Väter und Lehrer in der Ratsstube voll Bewunderung für
die große Geste dieses Akts. Wie die meisten pathetischen Begebenheiten der
böhmischen Geschichte hatte auch das Bild des Fenstersturzes ein ironisches
Schwänzchen. Den drei kaiserlichen Räten, die in den tiefen Schloßgraben fielen,
ist bekanntlich nichts geschehen. Eine alte österreichische Gewohnheit, erledigte
152