Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 3
DOI article:
Wiegler, Paul: Prager Kalender
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0246

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Februar
Vom demolierten Wenzelsplatz, den kleinen Inselperron überquerend,
schwenken Nachtbummler in Nebengassen. Beim Spinka, an der Ecke des
Grabens, dampfen die Kessel der fahrbaren Teeküchen. Der Graben endet an der
Zivnostenska Banka, am Hotel Blauer Stern. Mit grauem Empiregiebel schneidet
hinter dem Josefsplatz, über den die jungen Straßendirnen wechseln, das Haupt-
zollamt in die Nacht hinüber. Das gotische Tor des Pulverturms wuchtet vor der
Zeltnergasse. Um das alte Landesgericht, vorbei an den zyklopischen braunen
Karyatiden, biegt die Straße zum Obstmarkt ein. Bucklig ist das Pflaster, faulende
Äpfel liegen in seinen Rinnen. Ein Durchhaus, hundert Schritte von der Galli-
kirche, führt in stummes Winkelwerk. Rolljalousien versperren die Läden, in
deren Türen bei Tag, zwischen Schuhen und Männerhosen, die Kinder der
Handelsleute lungern. Eine weiße Laterne bescheint das Caferestaurant Trocadero.
Der Pianist phantasiert aus „Madame Butterfly". Zwischenwände von ver-
blaßtem Kretonnestoff stellen Nischen her. Fast überall wird deutsch gesprochen.
Nur Champagner wird getrunken und die Hausmarke, ein zuckriger Asti. Zwei
Schwestern tanzen umarmt einen Twostep. Die größere, die ihrer kleinen Nase
wegen den Spitznamen einer Gräfin Nostiz hat, lißt schmachtend die blonden
Lider fallen, mit der holden Demut der Madonna. Von den Nischen ruft man ihnen
zu. Eine Dame im Samtkleid faßt die kleinere der Schwestern um die Hüften. Ein
junger Mann in Smoking und zerknitterter Hemdbrust, der vor dem Büfett
umhergerannt ist, wirft sich gewalttätig auf den Kellner. „Zechpreller!" schreit
die brillantengeschmückte Kassiererin, „Maste ho!" draußen der Nachtportier.
In der Rittergasse gröhlen Betrunkene. Mit gelbem Licht, von schmutzigroten
Gardinen halb verdeckt, blinzeln die Scheiben eines Bierschanks ; „Ranni polevka".
Ländliche Fuhren halten an der geschlossenen Markthalle, Bäuerinnen schlafen
zwischen den violetten Krautstapeln. Unter dem Gewölbe des Hauses „Zum
goldenen Rad" Granitplatten mit metallischem Anschlag, der vor dem Fenster
mit den bauchigen Geburtstagstassen und den irdenen Krügen scharf zurück-
klingt. Ein magerer Hund streicht durch die verödeten Reihen des Blumen-
markts. In der Schalengasse dudelt das Grammophon einer Kaffeespelunke.
Jenseits des Bethlehemsplatzes, in der Liliengasse, wird aus unheimlichem Ge-
mäuer ein Pochen laut; eine beringte Hand schiebt an einem Vorhang, eine Vettel,
in ein Tuch eingemummt, raunt den Passanten abschreckende Worte zu. Ein
Prellbock, dessen eisernen Klumpen die Zeit versehrt hat, gleicht dem behelmten
Haupt, dem Rumpf eines römischen Ritters; und die zerfressene Mundpartie ist
offen wie in gespenstischer Klage. Meterdick lasten die Wände, mit ihrem Aus-
satz von Ruß und Brodern. Eine steinerne Stütze überspannt die Kettengasse,
deren Eckhäuser sie verbindet. „Folies Caprice", ein erleuchtetes Portal.
Die Folies Caprice, vier Stuben im Erdgeschoß eines verwahrlosten Zins-
hauses, haben einen tschechischen Volkskomiker zum Direktor. Autos rattern
davor. Im Flur breitknochige Mädel, aus ländlichen Fabrikorten, aus armen Dör-
fern in die große Stadt zusammengetrieben. An runden Marmortischen sitzen
drinnen die Schaulustigen, in einer Dekoration von orientalischen Tuchfetzen
und Papierblumen. Eine Chansonette aus einer kleinbürgerlichen Singspielhalle
überschrillt mit dem Gesang „O Emane" die Tanzmelodie des Slapak.

156
 
Annotationen