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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 4
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Milhaud, Darius: Die neuen Rhythmen in Frankreich
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0347

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DIE NEUEN RHYTHMEN IN FRANKREICH
Von
DARIUS MILHAUD
Geistige Moden kommen und gehen, sie ändern sich schnell, kommen natür-
lich wieder. Das Paris der Nachkriegszeit ist toll nach dem Zirkus, nach der
Music-Hall, nach Jazz. — „Parade", die „Belle Excentrique" von Satie waren
die Losung; Cocteaus „Hahn und Harlekin", ein Foxtrott von Auric, das Hoch-
zeitspaar vom Eiffelturm, der „Boeuf sur le toit". Man will genießen — nur
keine „ernste Musik"! In Cocteaus Zeitschrift „Le Coq" schrieb Poulenc vormals:
„Hon uns werdet ihr niemals Werke ^u hören bekommen." Und ich wiederum, Poulenc
zum Trotz: „Ich gedenke, achtzehn Quartette @ schreiben" (Beethoven schrieb sieb-
zehn). Damals entdeckten wir für uns den „Pierrot Lunaire" ; der Krieg ließ nur
ganz Weniges von der Musik Österreichs und Deutschlands durchsickern. Zum
Glück war Honegger Schweizer, er mußte die Partituren von Schönberg in
Zürich besorgen. Immerhin schrieben wir bereits im „Coq": „Arnold Schönberg,
Die Sechs Musiker Frankreichs grüßen Sie!" Allerdings kannten wir damals noch
nicht Hindemith, die Seele von Deutschlands musikalischer Erneuerung.
1929 — Nun ist alles sehr verändert: In Berlin siegte die „heitere Musik", der
krächzende Sketch, die Music-Hall, der Jazz. Kreneks „Jonny" erlebte zahllose
Aufführungen. Weill schreibt „Mahagonny" nach der „Dreigroschenoper", man
spielt „Hin und Zurück" und das neueste Meisterwerk von Hindemith, sein blen-
dendes „Neues vom Tage", das Meisterwerk des Tages.
In Frankreich sichtet man: Poulenc schreibt „Werke", seiner feierlichen Ver-
sicherung entgegen: ein Cembalokonzert, ein „Ständchen"; er zwingt sich mit-
unter zu einer strengen Dramatik, die seiner frischen Jugendlichkeit nicht sehr
gut zu Gesicht steht. Satie schrieb als seinen Schwanengesang den wunderbaren
„Merkur", zu dem Picasso die Ausstattung malte, ein Werk von weitreichender
Bedeutung. Auch Strawinsky näherte sich mit seiner „Mawra" dem Programm
Cocteaus, dann kehrt er mit dem „Oedipus Rex" zur Antike zurück; sein „Apollon
Musagetes" glänzt von dem gleichen warmen Seelenlicht wie Saties „Merkur".
Jetzt spricht man wieder von klassischer Musik, von ernster Musik, von allem,
was man vor einem Jahrzehnt abscheulich fand. — Strawinsky droht sogar, Wagner
wieder in Kurs zu bringen! Da sei Gott davor!
Immerhin schreiben heute auch die ganz jungen Leute geruhige Musik für
eicht erregbare Nerven: Saguet zum Beispiel vertont alles, was ihm vom Herzen
geht. Er hat vor sieben Jahren mit einer komischen Oper, dem „Helmbusch des
Herrn Obersten" begonnen, jetzt wagt er sich an Stendhal, komponiert die „Kar-
thause von Parma". Eine Reihe liebenswürdiger, junger Talente arbeitet ähnlich:
begeistert und unbekümmert lyrisch. Nikolai Nabokow, eine Entdeckung Djaghi-
lews, hat ein üppiges Ballett von strotzender Lebensfreude geschrieben, auch eine
Sinfonie voll Überschwang und Gesinnung. Da ist auch noch ein zweiter junger
Russe, Igor Markewitsch, genau siebzehn Jahre alt, er ist in Musikerkreisen bekannt
geworden mit einem Klavierkonzert und einer Sinfonie; beide haben in Brüssel
wie in London ungewöhnlichen Beifall gefunden. Der Junge ist ebenso schüch-
tern wie bereits von sich überzeugt. Natürlich ist auch er von Djaghilew entdeckt,

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