Rudolf Grossmann Willem Mengelberg
und anderen ähnlichen Apparaten für elektrische Tonerzeugung, die es erlauben,
Differenzen von einzelnen Schwingungen hörbar zu machen, sein theoretisches
Ende ist da, bevor er noch beschritten wird. Der Begriff der Quantität ist in der
Kunst unverwendbar, für die Zwecke künstlerischer Gestaltung ist die arithme-
tische Anzahl der materiellen Möglichkeiten völlig gleichgültig. Im Gegenteil,
die Quantität drückt auf die Qualität, und das ist ja ein typisches Kennzeichen der
Inflation, daß man zwar viel hat, daß aber das einzelne nichts wert ist.
Nun ist natürlich eine Rekonstruktion des Status quo nicht möglich. Man
kann die Tatsache der unbegrenzten Möglichkeiten nicht wegleugnen und braucht
es auch nicht zu tun. Man kann sich aber von diesen das Material betreffenden
Erwägungen ganz frei machen, und das muß man sogar. Die Überschätzung des
Methodischen, die die rapide Entwicklung des musikalischen Materials mit sich
gebracht hat, ist ungesund und unfruchtbar. Die ununterbrochene Kontrolle,
ob diese Kontrolle nicht an irgend etwas erinnert, ob jene Akkordverbindung
nicht „verbraucht" sei, und dergleichen, führt sehr bald zu dem unerfreulichen
Resultat, daß es schließlich überhaupt keine unverbrauchten materiellen Möglich-
keiten mehr gibt, denn wo alles jeden Moment möglich ist, ist nichts mehr
originell. Es wird also nötig sein, musikalische Vorgänge weniger auf die Zeit-
gemäßheit und Nochnichtdagewesenheit ihres Materials, als auf ihren Ursinn
und ihre innere Unmittelbarkeit hin
zu betrachten. Diese herzustellen,
ohne Belastung mit Sorgen um die
Beschaffung unentdeckter Bausteine,
ist mein Bestreben, und darin fühle
ich mich mit größeren Geistern
einig. Mozart und Schubert z. B.
haben sich meiner Ansicht nach sehr
wenig um die Einführung noch
nicht benützter Harmonien geküm-
mert. Was bei ihnen an Alterationen,
Vorhalten und anderen sogenannten
Kühnheiten vorkommt, war durch-
aus bekannt und auch schon von
anderen exploitiert. Auf derlei
Dinge kommt es eben sehr wenig
an. Wenn man sich wieder abge-
wöhnt haben wird, bei jedem neuen
Werk sensationelle Entdeckungen
von einer musikalischen Nordpol-
fahrt zu erwarten, wird man auch
nicht mehr banal finden, was nur
die organische Fortführung wert-
beständiger Gestaltungsmöglichkei-
ten sein will. Man sollte — auch in der
Kunst! — wieder mehr qualitativ
als quantitativ zu denken versuchen.
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