Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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Heft 4
DOI article:Gieseking, Walter: Neue Sachlichkeit im Klavierspiel
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Dolbin
einer Art pianistischer Expressio-
nislerei, die nicht mehr mit trai-
nierten Fingern protzt, sondern
in einer Art seelischer Diarrhöe
auf unentwegte und unangebrachte
falsche Extasen hinarbeitet, die Zu-
hörer zu bluffen. Jeder klavier-
spielende Backfisch glaubt sich
hierbei berechtigt, die edelsten
Meisterwerke durch eine soge-
nannte persönliche Auffassung zu
verschandeln, eine Auffassung, die
meist aus unzähligen technischen
und musikalischen Mißverständ-
nissen, willkürlichen Tempi, fal-
Gieseking scher Phrasierung und einer ge-
hörigen Portion Gefühlsduselei
unsinnvoll gemixt ist. „Fachleute" faseln dann oft von restlosem Erschöpfen des
seelischen Gehalts einer Komposition, wo eigentlich nur geistige Erschöpftheit
und Leere festzustellen wäre.
Hier ist es, wo eine Entwicklung zu neuer Sachlichkeit notwendig ist, zu einer
Sachlichkeit und Sauberkeit, die allerdings nichts absolut Neues bedeutet, sondern
einfach eine Besinnung auf die unveränderlichen Grundlagen jeder anständigen
Interpreten-Kunstleistung ist, eine Rückkehr zum
unbedingten Respekt vor den Schöpfungen der
großen Tonmeister. Jeder, auch der genialste Inter-
pret, ist gegenüber einem Bach, Mozart, Beethoven,
Schubert e tutti quanti ein erbärmlicher kleiner Pin-
scher, der einfach zu parieren hat!
Die Abkehr von diesen Entartungserscheinungen
der nachromantischen Epoche darf nun aber nicht
bis ins andere Extrem geführt werden, zu einer Über-
treibung des Unentwegt-Sachlichen, die überhaupt
für Empfindung und Gefühl keinen Raum mehr
läßt. Dies ergäbe ebenso stilwidrige Interpretationen
wie das obenerwähnte Servieren aller Musik mit einer
Sauce Ekstase; doch würden wohl die Wirkungen
dieses apparathaften Spiels nicht so verderblich
sein wie die nachexpressionistische Gefühlchen-
schwelgerei, weil von diesem „style ennuyeux" über-
haupt keine Wirkung ausgehen würde.
Für den Interpreten bedeutet also die neue Sach-
lichkeit, daß nicht die Exhibition persönlicher
Nervenreizungen, sondern nur die schlichte, unver-
fälschte, sinngetreue Darstellung einer Komposition
seine künstlerische Aufgabe ist.
Dolbin: Josef Mathias Hauer,
der Finder des Zwölftongesetzes
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