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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 4
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Balázs, Béla: Abschied vom stummen Film
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0384

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Bei der Tonaufnahme gibt es (einstweilen?) keine Einstellungen. Ein Ton kann
auch von oben und unten, von nah und von fern erklingen. Damit ist er aber nur
im Raume lokalisiert. Er verändert nicht seine Gestalt, seine „Physiognomie"
durch die Perspektive. Es kann nicht derselbe Ton, der von derselben Stelle
kommt, von drei verschiedenen Kameraleuten auf drei verschiedene Weisen auf-
genommen, „aufgefaßt" werden, wie das bei jeder optischen Aufnahme jedes
Gegenstandes möglich ist. Der Ton kann nicht durch das subjektive Temperament
des Aufnehmers den Charakter vollkommen verändern — und derselbe Ton
bleiben. Und doch würde hier überhaupt erst die Kunst des Tonfilms beginnen.
Mit solcher subjektiver Einstellungsmöglichkeit beginnt ja die Kunst überhaupt.
Die deutenden Einstellungen machen es, daß der stumme Film nicht bloß mecha-
nische Reproduktion, sondern Originalkunst ist. Wie der Schauspieler im Atelier
spricht, wie der Tonmixer im Atelier seine Geräusche komponiert, mag große
Kunst sein. Im Atelier. Auf dem Tonfilm erklingt das alles bloß als Reproduktion
jener Kunst im Atelier.
Es ist nicht einmal Darstellung. Auf der Leinwand erscheint das Bild des
Schauspielers. Aber nicht ein Bild seiner Stimme, sondern die Stimme selbst, die
einfach mechanisch weitergeleitet ist, wie durch das Telefon. Denkt euch ein
Gemälde, auf dem das Licht nicht gemalt ist, sondern von einem Reflektor drauf-
gestrahlt wird!
Die Unmöglichkeit der Toneinstellung hindert natürlich auch die besondere
optische Einstellung der Tonquelle. Wenn ein Satz, um verständlich zu sein, ganz
einfach und direkt aufgenommen wird, dann kann man dem sprechenden Kopf
auch keinen interessanten und charakteristischen Skurz geben. Die Bildeinstellungs-
technik in den Tonfilmen wird wieder primitiv, wie vor Jahren.
Aber auch hier kann noch eine Lösung kommen. Unser Gehör ist ja unser
unentwickeltstes, ungebildetstes Organ. Die Töne werfen keine Schatten. Sie decken
einander nicht. Sie bleiben nicht isoliert nebeneinander. Sie sind nicht wie ein
Reflektorstrahl gradlinig zu projizieren. Töne verschmelzen und geben uns darum
— ohne Bild — keine Raumvorstellung. Sind darum schwer zu lokalisieren. Aber
wenn wir daran denken, wie wir durch den stummen Film sehen gelernt haben,
so ist gar nicht abzusehen, wie wir hören lernen werden.
Und was die jetzigen Tonfilme betrifft, so können wir uns damit trösten, daß
sie auf keinen Fall unsterblich sind. Ein Theaterstück kann von Regisseuren und
Schauspielern einer späteren Generation neu und wieder zeitgemäß interpretiert
werden. Beim Tonfilmdrama ist aber jede Nuance jedes Tonfalls einfürallemal
festgelegt. Es kann kein anderer Regisseur das Werk anders inszenieren. Der
ursprüngliche Kunstwille des Schöpfers (oder der Zufall) ist eindeutig und un-
wandelbar bis ins letzte „verewigt". Aber gerade darum dem raschen Untergang
geweiht. Denn nur die Möglichkeit des Mißverstehens, die Möglichkeit des Um-
deutens kann ein Werk in die nächste Generation hinüberretten.
Die große Tonfilmkunst kommt trotz alledem bestimmt. Hat nicht schon der
Mystiker Meister Eckehard gesagt, daß wir „im Himmel nicht durch unsere
Augen, sondern durch unsere Ohren glücklich sein würden?" Da heißt es ab-
warten und durchhalten.

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