und damit verbundenem Verfall, wie die Ge-
schichte Münchens erschreckend deutlich be-
weist. Für wen aber schon jedes Eichhörnchen,
das über den Weg läuft, ein Symbol der
freien, wilden und üppigen Natur ist, wer
einen Ausflug unternimmt, sobald bekannt wird,
daß irgendwo eine Waldblume ohne Unter-
stützung der Stadtgärtnerei aufsprießt, der erhält
sich dauernd ein Gefühl für die Schwierigkeit
alles Erreichten, der kennt die Maßstäbe, die man
an die Dinge legen soll, der ist bescheiden und
dankbar zugleich. So ist die beschauliche, stille,
niemals hinreißende Umgebung von Leipzig ein
Anreiz für seine Bewohner geworden, nach Fülle
und Vielfalt in jederForm zu suchen. Es versteht
sich nunmehr von selbst, daß eine Stadt, die von
einer so außergewöhnlich veranlagten Bevölke-
rung bewohnt wird, Außergewöhnliches leistet.
Die Volksleidenschaft ist die Messe, auf die sich aller berufliche und häus-
liche Ehrgeiz des Leipzigers konzentriert, und vor der man keine Parteien kennt.
Mit der unerschütterlichen Überzeugung von der Wichtigkeit der Messe schlägt
jeder neugeborene Leipziger die Augen auf. Wenn es gilt, die Messe zu unter-
stützen, herrscht im Stadtparlament Einigkeit. Zweimal im Jahr, unter ungeheurem
Aufwand, mit jährlich sicherer funktionierender Maschinerie, arrangiert der
Leipziger sich Brausen der Welt und babylonisches Stimmengewirr. Er arrangiert
dies auf eine Weise, die ihm noch keine andere Stadt der Erde hat nachmachen
können. Er hat es fertiggebracht, einen Teil seiner inneren Stadt aus Häusern
(den sogenannten Messepalästen) bestehen zu lassen, die nur zwei Wochen im
Jahr benutzt werden, und die trotzdem mehr einbringen, als wenn sie anderswo
das ganze Jahr über Mieter hätten. An der Messe gibt es keine Kritik, aber der
Leipziger, dank seiner geschilderten Charaktereigenschaften, ruht sich niemals
auf dem Erreichten aus. Er kennt und fürchtet den Neid der Götter, und wenn
wieder und wieder einmal eine Messe mit Erfolg geschlossen hat, dann spricht
er nicht davon, ja klagt eher darüber und sinnt auf Verbesserungen. Allerdings
greift die Messe bis tief in das Privatleben der gesamten Bevölkerung hinein.
Es sind nicht allein die Kaufleute, Verkäufer und Käufer, die an der Messe
profitieren. Es sind die Restaurateure und Kinobesitzer, die Zimmervermieter,
die Kinder, die mit Handkarren die Fremden am Bahnhof erwarten, es sind die
Mädchen und Frauen, die regelmäßig neun Monate nach beendeter Messe in
größeren Scharen als sonst die Entbindungsanstalten aufsuchen, denen allen die
Messe Zuwachs und Einnahmen, Erinnerungen und Erfahrungen verschafft.
Alles, was jenseits der Messe liegt, ist nicht mehr Volksangelegenheit, sondern
Angelegenheit von Parteien oder Ständen, von Kasten oder Organisationen.
Gern geben sich die Buchhändler und Buchdrucker als das eigentliche Salz von
Leipzig aus, aber sie haben stark durch den dauernden Umgang mit
geistigen Gütern gelitten. Zwar sind die Druckereien die besten Deutsch-
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