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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 5
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Illing, Werner: Chemie von Chemnitz
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0453

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Maurerpoliere rächen sich bis ins vierte und fünfte Glied. Den Stadtvätern von
ehedem ging Exportgeschäft vor Städtebau. Der Befund ist betrübend. Kein
Demiurg kann auf Geschlechter hinaus in dieses lieblose Chaos Ordnung bringen,
geschweige denn ein Baurat, dessen tüchtige Pläne von den politischen Parteien
mit Randbemerkungen verziert werden, wenn anderer Streitstoff fehlt. Einige
ausgezeichnete Bauformen, die in den letzten Jahren entstanden und die noch
im Entstehen sind (Schulen, Fabriken, Kaufhaus), liegen außerhalb der Achsen.
Man entdeckt sie nur durch Zufall und glaubt, man habe sich geirrt. Der Verkehr
geht dementsprechend seine eignen krummen und engen Wege. Obwohl die
wackeren Männer, die ihn mit weißen Handschuhen lenken, vor ihrem Dienst-
antritt eine Sonderprüfung in den schwierigsten amerikanischen Puzzlespielen
ablegen müssen, gelingt es ihnen stundenweise nicht, die verschiedenen gordischen
Autoknäuel human zu lösen. (Das Tragen von Schwertern ist ihnen jedoch
untersagt.)
*
Die Armut des Erzgebirges ist alt, aber der Reichtum der Textilkönige neu.
Er hat noch keine Zeit gehabt, sich abzulagern und die süßen stillen Freuden
des echten Mäcenatentums zu entdecken. Wo die sozialen Gegensätze weit
auseinanderklaffen und keine Gebärde der Kultur vermittelt, lädt sich die Atmo-
sphäre mit politischen Spannungen. Dennoch fehlt es nicht an dem, was man
gemeinhin geistiges Leben nennt. Die Theater unter der Leitung von Richard
Tauber (jawohl, des Kammersängers Vater) bemühen sich um mehr als
provinzielle Geltung. Eine starke und sehr rührige Volksbühne mobilisiert den
Kulturwillen der Massen. Mit ungewöhnlichem Geschick und Spürsinn hat
Schreiber-Weigand die städtische Gemäldesammlung modern ergänzt (und mit
welch geringen Mitteln!). Sie finden da einige ausgezeichnete Kirchner und
Schmidt-Rottluffs, die gebürtige Chemnitzer sind, daneben Munch, Nolde,
Pechstein, Hofer, Kokoschka und von Heckel das schöne Triptychon „Badende".
O. Th. W. Stein ist Wahlchemnitzer geworden. Sein Atelier ist vom Packraum
einer Strumpffabrik abgeschlagen. Dort malt er in sublimen Grautönen, die sich
erst bei näherer Betrachtung farbig entschleiern, Frauenköpfe und verhaltene
Landschaften in wesenhafter Transparenz und verkauft sie nach Paris. Ein kleiner
Kreis von Freunden der Literatur schart sich um Albert Soergel, auf dessen
Anregung die Gesellschaft der Bücherfreunde zu Chemnitz neben schönen
bibliophilen Erstdrucken die wertvolle Reihe von Selbstbiographien lebender
Schriftsteller und Dichter herausgibt.
Doch das sind Zufälligkeiten. Chemnitz sieht dich an: ein Arbeitsmann mit
verbeulten Hosen, den Essentopf in der Hand, kommt auf dich zu und schaut
dir halb gutmütig, halb mißtrauisch unter den Hutrand; ein Schreibmaschinen-
mädel stupst dich energisch zur Seite, wenn die Schlacht vor dem Trittbrett
der Straßenbahn beginnt. Hier wird gearbeitet oder stempeln gegangen, je
nachdem es die Konjunktur befiehlt.
Die Umgebung von Chemnitz ist stellenweise nicht übel . .. Mittelgebirge,
grüne, gemäßigt romantische Täler und Flüßchen mit Industrieabwässern. Aber
im Vertrauen, wenn Sie sich erholen wollen, rate ich Ihnen doch, lieber nach
Lugano oder Cannes zu fahren.

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