Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0479
DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:Eloesser, Arthur: Wie schreibt man eine Literaturgeschichte?
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der Erwartung: was kommt jetzt? Wenn mein Klopstock kommt, ist er vor-
bereitet, so wie er das damals wirklich war; sonst hätte er nicht so augenblicklich
mit so weitem Wurfe wirken können. Das Vorhersehen, das Vorbereiten geschieht
am besten unbewußt, wenigstens bei einem Werk der Phantasie; eine so lange
Darstellung, der außerdem der Stoff aufgegeben ist, kann ohne technische Not-
hilfe natürlich nicht fortkommen. Man soll keine Romane erfinden; der historische
Roman ist etwas Fürchterliches. Wenn aber Goethe und Schiller sich eines Abends
begegnen, so muß man vorher gemerkt haben, wie sie sich gegenseitig näherten,
wie sie sich in einer bestimmten Situation gegenseitig brauchten.
Diese Schwierigkeit verschärft sich noch einmal durch den Notstand, daß
Gleichzeitiges nur nacheinander vorgetragen werden kann. Man muß sich zu
helfen wissen, um trotzdem das Miteinander, Ineinander, Gegeneinander heraus-
zubringen; man muß ohne Gewaltsamkeit vordeuten und wieder zurückdeuten,
um die Zeiten in der Zeit zusammenzuhalten. Franz Blei, der sich auf solche Fein-
heiten versteht, hat in diesen Blättern die Kunst der Überschneidung in meinem
Buche anerkannt; ich bin ihm dafür besonders dankbar, weil dieses technisch-
künstlerische Problem mich am meisten geplagt hat. Es handelt sich um die Kunst
der Verwebung, wo früher allenfalls genäht, meistens nur geflickt worden ist. Max
Liebermann soll einmal gesagt haben: Wenn ick’n Haus zeichnen soll, stehe ick
immer wieder davor wie'n dummer Junge. Ein Zeichenlehrer wird nie so stehen;
er hat das ein für allemal gelernt. Ich will mich nicht mit einem so hohen Herrn
vergleichen, aber auf die Künstlerangst, noch dazu vor einem Riesenstoff, darf
ich wohl auch einigen Anspruch machen. Man bedauere mich deshalb nicht; ich
habe sie nämlich liebgewonnen, diese Angst; man muß von ihr in allen Gliedern
geschüttelt worden sein, bevor das Auge klar, bevor die Hand fest wird, beide
einig zur Gestaltung.
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bereitet, so wie er das damals wirklich war; sonst hätte er nicht so augenblicklich
mit so weitem Wurfe wirken können. Das Vorhersehen, das Vorbereiten geschieht
am besten unbewußt, wenigstens bei einem Werk der Phantasie; eine so lange
Darstellung, der außerdem der Stoff aufgegeben ist, kann ohne technische Not-
hilfe natürlich nicht fortkommen. Man soll keine Romane erfinden; der historische
Roman ist etwas Fürchterliches. Wenn aber Goethe und Schiller sich eines Abends
begegnen, so muß man vorher gemerkt haben, wie sie sich gegenseitig näherten,
wie sie sich in einer bestimmten Situation gegenseitig brauchten.
Diese Schwierigkeit verschärft sich noch einmal durch den Notstand, daß
Gleichzeitiges nur nacheinander vorgetragen werden kann. Man muß sich zu
helfen wissen, um trotzdem das Miteinander, Ineinander, Gegeneinander heraus-
zubringen; man muß ohne Gewaltsamkeit vordeuten und wieder zurückdeuten,
um die Zeiten in der Zeit zusammenzuhalten. Franz Blei, der sich auf solche Fein-
heiten versteht, hat in diesen Blättern die Kunst der Überschneidung in meinem
Buche anerkannt; ich bin ihm dafür besonders dankbar, weil dieses technisch-
künstlerische Problem mich am meisten geplagt hat. Es handelt sich um die Kunst
der Verwebung, wo früher allenfalls genäht, meistens nur geflickt worden ist. Max
Liebermann soll einmal gesagt haben: Wenn ick’n Haus zeichnen soll, stehe ick
immer wieder davor wie'n dummer Junge. Ein Zeichenlehrer wird nie so stehen;
er hat das ein für allemal gelernt. Ich will mich nicht mit einem so hohen Herrn
vergleichen, aber auf die Künstlerangst, noch dazu vor einem Riesenstoff, darf
ich wohl auch einigen Anspruch machen. Man bedauere mich deshalb nicht; ich
habe sie nämlich liebgewonnen, diese Angst; man muß von ihr in allen Gliedern
geschüttelt worden sein, bevor das Auge klar, bevor die Hand fest wird, beide
einig zur Gestaltung.
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