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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 5
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Wiegler, Paul: Lichtenberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0481

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Georg Christoph Lichtenberg

aus jedem Vorfall des Lebens die größtmögliche Quantität Gift zu eigenem Ge-
brauch auszusaugen." In seinen „Kollektaneen" spottet er seiner selbst, skizziert
er den „Charakter einer mir bekannten Person", seinen mißgestalteten Umriß,
den „auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichnen würde", seine
Kopfhängerei hinter dem Fenster, seinVerhalten zu Freunsdchaften und zur Liebe,
in der er „das eine Mal nicht unglücklich, das andere Mal aber glücklich" war, wie
er Assembleen meide, wie er esse und trinke, und wie er „zwar kein allzu ökono-
mischer, aber doch kein ruheloser Besitzer" des vom Schöpfer ihm verliehenen
Lebens gewesen sei. Er hat eine maliziöse Feder, und er ist nicht furchtsam: „Es
ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne hier
einen Bart und dort ein Kopfzeug zu versengen, und verdrießliche Auslegung
▼on Satiren muß man immer erwarten, solange man die Gegenstände dazu
nicht aus dem Alten
Testament nimmt."
1778 schreibt der
„Witzler", so nennt
ihn Lavater in Brie-
fen an Hamann,
„Über Physiogno-
mik, wider die Phy-
siognomen". Er
selbst studiert seit
seiner Jugend Ge-
sichter und ist er-
staunlich in seinen
Analysen der Mimik
des großen Tragö-
den Garrick; die
„Raserei", die emp-
findelnde Unschärfe

Lavaters lehnt er
ab. Er verhöhnt ihn
auch mit dem Schat-
tenriß eines ehemali-
gen preußischen Un-
teroffiziersund neun-
fachen Mörders, den
Lavater fragend für
den,,Stifter einer mil-
unbekannten religi-
ösen Sekte" hält.
Da Zimmermann,
Lavaters Freund, in
einer Replik gegen
den „Kalenderma-
cher" auf das Ge-
brechen Lichten-
bergs anspielt, auf

das sein Widerwille gegen Physiognomik zurückzuführen sei, geht Lichtenberg
auch gegen den „Herrn Leibmedikus" unnachsichtlich vor. Lavaters „Fragmente"
travestiert er 1783 in dem „Fragment von Schwänzen", den Silhouetten von Sau-
schwänzen, Doggenschwänzen und „Purschenschwänzen", Zöpfen von Studenten-
perücken. Einen glossiert er: „An Schneidergesellheit und Lade grenzende schöne
Literatur. In dem scharfen Winkel, wo das Haar den Bindfaden verläßt, wo nicht
Goethe, doch gewiß Bethge, hoher Federzug mit Nadelstich." Denn Goethe,
dessen Namen er hier mit dem eines Göttinger Schneiders zusammenbringt, ist
für ihn der Urheber des „furor Wertherinus". „Selbst draußen in Böotien ent-
stund ein Shakespeare, der wie Nebukadnezar Gras statt Frankfurter Milchbrot
fraß und durch Prunkschnitzer sogar die Sprache original machte." Und wider
die Genies schreibt er „Parakletor oder Trostgründe für die Unglücklichen, die
keine Originalgenies sind."
„Waste book", „Sudelbuch", nach der englischen Kaufmannssprache, nennt
er seine Tagebücher. Er hat einen Drang, dichterisch produktiv zu sein, aber er
zögert: „Der Procrastinateur: der Aufschieber, ein Thema zu einem Lustspiel,

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