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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 1
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Rothe, Hans: Englisches Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0049

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Stück sich Schauspieler engagieren (zwei bis drei Prominente, alles andere mög-
lichst billig) und dieses Stück erst in der Provinz ausprobieren, wo es bis auf ver-
schwindende Ausnahmen keine Theater gibt.
Ein Erfolg nimmt ganz andere Dimensionen an als in Deutschland. Zur eng-
lischen Aufführung vom „Kaiser von Amerika" war zum Beispiel im Oktober
schon kein Platz mehr für die Weihnachtsfeiertage zu haben. Ein Riesenerfolg
wie „Jud Süß" (von Ashley Dukes, nach Feuchtwanger) konnte im November
1929 ankündigen, daß für die Ostertage 1930 bereits ausverkauft ist. Wenn ein
Stück in London Erfolg hat, wird von den Billettinstituten, die den befremdlichen
Namen „Libraries" tragen, die Gesamtzahl der Plätze für eine gewisse Zeit so-
gleich aufgekauft. Hält der Erfolg an, so kaufen die „Libraries" weiter, so daß
für ein Erfolgsstück an der Theaterkasse so gut wie niemals ein Platz zu haben ist,
sondern nur bei den Zwischenhändlern. Der Begriff der Freikarte ist unbekannt.
Fast alle englischen Theater sind tief in die Erde eingebaut. Zum Parkett
steigt man oft endlose Treppen hinunter, so tief, daß man nur noch das unaus-
gesetzte Dröhnen der Untergrundbahnen aus den dicht benachbarten Röhren
vernimmt. Sie sind samt und sonders nach dem Gesichtspunkt gebaut, daß die
Bühne unwichtig, der Zuschauerraum wichtig ist. Es wird auf die Ausstattung
der ohnehin sehr kleinen Bühnenhäuser mit technischen Anlagen verzichtet.
In ganz London gibt es eine einzige Drehbühne, und die steht in einem Variete-
theater. Auf diese Weise wird das Publikum nicht verleitet, an das Bühnenbild
irgendwelche Anforderungen zu stellen. In herzlichem Übereinkommen hängt
jeder Direktor die ältesten Prospekte und faserigsten Soffiten immer wieder heraus.
Nur für Beleuchtungseffekte wird Sorge getragen. Die Einstellung der Engländer
zu ihrem Theater bedingt die theatralischen Leistungen.
Es gibt auch sogenannte seriöse Leute in England, die sich durchaus im Theater
den Kopf zerbrechen wollen, aber die sind in der Minderheit und müssen ihr
Wesen Sonntags treiben, wo alles normale Leben in England völlig ruht. Sonn-
tags, wenn alle regulären Theater geschlossen sind, werden die Stücke mit
künstlerischen Qualitäten aufgeführt, von denen sich niemand im Lande einen
Kassenerfolg verspricht. Man hat sich zu diesem Zweck zu Gesellschaften zu-
sammengeschlossen und führt solche Stücke nur vor deren Mitgliedern auf.
Manchmal wird durch diese Sonderveranstaltungen ein großer Erfolg geboren.
Journejs end („Die andere Seite") ist zuerst von einer solchen stage society auf-
geführt worden. Im allgemeinen wirken die Schauspieler bei diesen Veranstal-
tungen unentgeltlich mit, ja, es hat sich im Lauf der Jahre zu einer Ehre ent-
wickelt, die Experimente mitmachen zu dürfen. Die meisten Werke von Shaw,
auch nachdem sie in Deutschland schon zu hunderten von Malen gespielt waren,
sind auf diese schüchterne Weise hervorgetreten. Den ersten öffentlichen Erfolg
hatte Shaw mit der heiligen Johanna. Vorher war er bekannt, aber nicht populär.
Jetzt ist er populär, aber nicht mehr so bekannt. Es ist auch heute noch ein großer
Zufall, in London die Aufführung eines früheren Werks von Shaw zu erwischen.
„Der Kaiser von -Amerika" hat augenblicklich die Öffentlichkeit sehr erregt,
obwohl die Theaterkritiker fast alle sehr schlechte Zensuren ausgeteilt hatten.
Das Stück wird drüben viel weniger ernst genommen als bei uns, und niemand
hat den Staat in Gefahr gesehen. Überhaupt erkennen seine Landsleute nicht

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