Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:Bagge, Evelyne: Englische Gesellschaft
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ENGLISCHE GESELLSCHAFT
Von
EVELYNE BAGGE
Es würde viele Seiten dieser Zeitschrift in Anspruch nehmen, wenn man eine
eingehende Schilderung der Gesellschaft in England geben wollte. Sie ist so
schwer mit der in Deutschland und anderen Staaten des Festlandes zu vergleichen,
weil sie so verästelt und durchsetzt ist. Es gibt in London keinen scharf umrissenen
Hofkreis, der alle andern überragt oder sich gegen sie abschließt. Sogar die
Gesellschaftsschicht des alten Landadels, die sich aus den ersten Familien in
den verschiedenen Landbezirken zusammensetzt, ist nicht mehr so geschlossen
wie früher, bevor sich der Brauch der Wochenend-AusRüge so allgemein durch-
gesetzt und schnelle Züge und Autos die Vergnügungen und sonstigen Reize
Londons dieser unruhigen Generation, die ewig unterhalten sein will, in bequeme
Reichweite gerückt hatte. London ist das wahre Zentrum des gesellschaftlichen
Lebens, und da es eine Stadt von ungeheuren Ausmaßen ist, so umfaßt sie zahl-
lose gesellschaftliche Gruppen, die sich aus den bedeutendsten, elegantesten,
repräsentativsten und zumindest doch begabtesten Leuten zusammensetzen.
Die früher einmal so beliebten Nachforschungen nach den Großeltern — ob
die Bekanntschaft mit ihnen erstrebenswert war oder nicht — Fragen, die ver-
flossene Generationen so sehr beschäftigten, die gibt es nicht mehr. Die neuen
Armen haben sich notgedrungen zurückziehen müssen, und das Geld der Neu-
reichen ist nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Doch können ein guter Kopf,
Charme und Mutterwitz Schranken, die früher einmal allgemein als unübersteig-
bar galten, heute viel leichter niederlegen als der Rammwidder von Geld und
Ehrgeiz. Das ganze Geheimnis liegt natürlich darin, daß selbst die gesellschaft-
lich Höchstgestellten nicht allzu ernst genommen oder umschmeichelt werden
wollen. Sie lassen sich lieber unterhalten, vielleicht sogar im Sturm erobern,
denn der Reiz, etwa noch höher zu klimmen, fällt für sie ja weg. Da ist der Grund,
aus dem schöne Schauspielerinnen, glänzende Schriftsteller und Künstler sich
gesellschaftlich durchsetzen konnten, während es so vielen andern mißglückt ist.
Aber auch Geld, mit Eigenart gepaart, kann einiges zuwege bringen. Ganz Lon-
don drängte sich zu den Empfängen einer reichen Amerikanerin, weil nie zuvor
jemand an so verschwenderische Darbietungen gedacht hatte. Ganz London
(die Creme, versteht sich) ging hin, machte sich aber auch ein wenig über die
Hausfrau lustig. Ein weiterer Grund für die Durchsetzung unserer Gesellschaft
ist recht menschlicher Art: der Langweilige, und sei er noch so hoch geboren,
wird nicht mehr gutwillig geduldet; ebensowenig aber engen rein gesellschaft-
liche Schranken den Wunsch nach Freundschaft von Mensch zu Mensch ein.
Es wäre hoffnungslos, die Aufzählung all der einzelnen Zirkel versuchen zu
wollen, die alle darauf Anspruch erheben können, zur „Gesellschaft" zu gehören.
Es gibt ihrer tatsächlich hunderte. Doch vom rein gesellschaftlichen Gesichts-
punkt aus sind die, die wirklich zählen, etwa in vier Gruppen zu teilen: die
Angehörigen des alten Adels, dessen Stellung unangefochten ist; die Gruppe der
„smarten" Jungen, geführt von ein paar der bestangezogenen, jungverheirateten
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Von
EVELYNE BAGGE
Es würde viele Seiten dieser Zeitschrift in Anspruch nehmen, wenn man eine
eingehende Schilderung der Gesellschaft in England geben wollte. Sie ist so
schwer mit der in Deutschland und anderen Staaten des Festlandes zu vergleichen,
weil sie so verästelt und durchsetzt ist. Es gibt in London keinen scharf umrissenen
Hofkreis, der alle andern überragt oder sich gegen sie abschließt. Sogar die
Gesellschaftsschicht des alten Landadels, die sich aus den ersten Familien in
den verschiedenen Landbezirken zusammensetzt, ist nicht mehr so geschlossen
wie früher, bevor sich der Brauch der Wochenend-AusRüge so allgemein durch-
gesetzt und schnelle Züge und Autos die Vergnügungen und sonstigen Reize
Londons dieser unruhigen Generation, die ewig unterhalten sein will, in bequeme
Reichweite gerückt hatte. London ist das wahre Zentrum des gesellschaftlichen
Lebens, und da es eine Stadt von ungeheuren Ausmaßen ist, so umfaßt sie zahl-
lose gesellschaftliche Gruppen, die sich aus den bedeutendsten, elegantesten,
repräsentativsten und zumindest doch begabtesten Leuten zusammensetzen.
Die früher einmal so beliebten Nachforschungen nach den Großeltern — ob
die Bekanntschaft mit ihnen erstrebenswert war oder nicht — Fragen, die ver-
flossene Generationen so sehr beschäftigten, die gibt es nicht mehr. Die neuen
Armen haben sich notgedrungen zurückziehen müssen, und das Geld der Neu-
reichen ist nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Doch können ein guter Kopf,
Charme und Mutterwitz Schranken, die früher einmal allgemein als unübersteig-
bar galten, heute viel leichter niederlegen als der Rammwidder von Geld und
Ehrgeiz. Das ganze Geheimnis liegt natürlich darin, daß selbst die gesellschaft-
lich Höchstgestellten nicht allzu ernst genommen oder umschmeichelt werden
wollen. Sie lassen sich lieber unterhalten, vielleicht sogar im Sturm erobern,
denn der Reiz, etwa noch höher zu klimmen, fällt für sie ja weg. Da ist der Grund,
aus dem schöne Schauspielerinnen, glänzende Schriftsteller und Künstler sich
gesellschaftlich durchsetzen konnten, während es so vielen andern mißglückt ist.
Aber auch Geld, mit Eigenart gepaart, kann einiges zuwege bringen. Ganz Lon-
don drängte sich zu den Empfängen einer reichen Amerikanerin, weil nie zuvor
jemand an so verschwenderische Darbietungen gedacht hatte. Ganz London
(die Creme, versteht sich) ging hin, machte sich aber auch ein wenig über die
Hausfrau lustig. Ein weiterer Grund für die Durchsetzung unserer Gesellschaft
ist recht menschlicher Art: der Langweilige, und sei er noch so hoch geboren,
wird nicht mehr gutwillig geduldet; ebensowenig aber engen rein gesellschaft-
liche Schranken den Wunsch nach Freundschaft von Mensch zu Mensch ein.
Es wäre hoffnungslos, die Aufzählung all der einzelnen Zirkel versuchen zu
wollen, die alle darauf Anspruch erheben können, zur „Gesellschaft" zu gehören.
Es gibt ihrer tatsächlich hunderte. Doch vom rein gesellschaftlichen Gesichts-
punkt aus sind die, die wirklich zählen, etwa in vier Gruppen zu teilen: die
Angehörigen des alten Adels, dessen Stellung unangefochten ist; die Gruppe der
„smarten" Jungen, geführt von ein paar der bestangezogenen, jungverheirateten
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