Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Cohen-Portheim, Paul: High Bohemia
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0073

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
eigentliche Lebensinhalt der Bohemians, denn nur sie geben Gelegenheit, wahr-
hafte Originalität zu beweisen. Zu einer party gehört ein Raum, Musik und sehr
viel Alkohol. Der Raum kann geborgt werden, den Alkohol können die Gäste
mitbringen (was sich dann bottleparty betitelt), die Musik kann von einem
Grammophon geliefert werden — zwischen dieser einfachsten Form und der
kostspieligsten, die tausende von Pfunden erfordert, gibt es sämtliche Abarten.
Die Hauptsache aber ist, zum mindesten im Frühjahr und im Herbst: keine Nacht
ohne party! Einfache parties, kostümierte ohne besondern Plan, und parties
mit „Programm". High Bohemia erfindet stets neues: Pyjama-parties, die be-
rühmte Wild-Westparty mit naturalistischem Police-raid, die Day of judgement-
party, auf der alle Gäste erschienen, „wie sie beim jüngsten Gericht aufzutreten
beabsichtigen", die Wedding-party, bei der alle als Spießer gekleidet in einem
volkstümlichen Lokal eine Imitationshochzeit feierten usw. Die Glanzpunkte
der letzten Saison waren eine Zirkusparty unter Mitwirkung von Affen, Schlangen,
einem Leoparden, im Hause eines bekannten jungen Modekünstlers; die „Em-
barquement pour Cythere-party" auf einer in der Themse liegenden Jacht; und
die Baby-party, die zum Entsetzen aller Nachbarn bis sechs Uhr früh im Garten
eines eleganten Squares tobte. Wie man sieht, ist für Abwechslung gesorgt, und
man wird begreifen, daß für andere Dinge wenig Zeit bleibt. Etwaige Zwischen-
pausen werden durch Cocktailparties ausgefüllt. Alle parties aber vereinen stets
friedlich alle vier Geschlechter, die sich hier ungehindert entfalten können, denn
High Bohemia wäre lieber tot als moralisch. Daß diese parties im schärfsten
Gegensatz zu den Festen der offiziellen Gesellschaftskreise stehen, braucht nicht
besonders betont zu werden, aber es gibt Bohemians mit Doppelseele, die sich
hier wie dort produzieren. — Soweit Tanz, Alkohol und Erotik Zeit zu Ge-
sprächen lassen, pflegen diese folgende Themen zu behandeln: Le Corbusier,
Cocteau, Diaghilew, Picasso, Rodierstoffe, Neger, Zirkus, Film, Cocktails, die
Geschwister Sitwell und die letzten Neuigkeiten aus Bloomsbury. Joyce und
Psychoanalyse trägt man nicht mehr. Streng verboten sind Politik (Krieg!),
Religion, die königliche Familie und Bernard Shaw — kurz, das ganze bürger-
liche Repertoire.
IV
High Bohemia hat, wie wohl aus Gesagtem hervorgeht, seine komischen und
albernen Seiten, vielleicht aber weniger als irgendeine andere Gesellschaftsschicht,
die man daraufhin prüfen würde. Bestimmt hat es auch seine großen Vorzüge.
Die Bohemians sind, en mässe betrachtet, sicher amüsanter und intelligenter als
Mitglieder anderer Kreise. Sie sehen fast ausnahmslos sehr gut aus, und sie haben
meist ungezwungene charmante Manieren. Sie haben vor allem — - was sie sicher
nicht gern hören würden — durchaus englischen Charakter, haben das, was
jeder, der die Engländer gut kennt, an ihnen lieben muß: gute Erziehung, Takt,
Liebenswürdigkeit. Sie haben endlich das unschätzbare Talent, sich herrlich
amüsieren zu können. Und ich wüßte nicht, in welcher Stadt, in Vergnügungs-
lokalen, auf öffentlichen oder privaten Festen, man sich ebensogut unterhält wie
in High Bohemia. Wenn es der Zweck des gesellschaftlichen Lebens ist, Spaß zu
machen, so ist er hier erreicht. Und das läßt sich vom gesellschaftlichen Leben im
allgemeinen kaum behaupten.

35
 
Annotationen