Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Dowson, Tom: Der Sonntag in London
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0074

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DER SONNTAG IN LONDON
Von
TOM DOBSON
Sonntag ist der Tag, an dem man sein wahres Selbst offenbart. Ist man von
Natur aus adrett und peinlich, so ist man am Sonntag noch adretter und pein-
licher. Ist man liederlich, dann ist man's Sonntags noch viel mehr als wochentags.
Im allgemeinen ist der Sonntag für den Londoner der Tag der Entspannung.
Er legt seine Werktagsgeschäftigkeiten ab, und mit den Sonntagskleidern hüllt
er sich auch in eine Sonntagsatmosphäre, ob er nun weißen Flanell und offenes
Hemd oder einen steifen schwarzen Rock trägt.
Fromme Leute gehen am Sabbat ein-, zwei- oder dreimal zur Kirche, aber
ihre Zahl nimmt rapid ab, und London wird bald so heidnisch wie Babylon sein.
Die Katholiken, besonders übergetretene, sind natürlich die eifrigsten Kirch-
gänger, obgleich die Baptisten und Orthodoxen nicht viel nachgeben. Für den,
der langweilige Unterhaltung in der Hauptstadt sucht, ist natürlich der Kirchgang
die gegebene Zerstreuung. In der St. Pauls Kathedrale (einer herrlich gebauten
Kirche) kann er einen hervorragenden Chor und eventuell eine Predigt von
Dean Inge hören, einem unserer gelehrtesten und geistreichsten Priester. Oder
er kann einem Gottesdienst beiwohnen in der Westminster-Kathedrale, dem
stolzen Haupt der katholischen Kirche in England. Für die Juden, die einen
ständig wachsenden, großen Teil der Bevölkerung bilden, hat der Sonntag
natürlich keinerlei religiöse Bedeutung. In East End, wo die armen Juden wohnen,
blüht an diesem Tag der Handel. Jeden Sonntagmorgen kann man in der White-
chapel High Street oder in einer der ähnlich duftenden Nachbarstraßen voll
Staunen die unermüdliche Aktivität und die orientalischen Gesten der Straßen-
händler in ihren prächtigen Buden beobachten.
Die einzige Lektüre für Millionen von Engländern ist eine Sonntagszeitung,
betitelt „News of the World", die zu 60 vH. aus Berichten von Sexual-
Vergehen besteht. Nebenbei bemerkt ist es das miserabelst gedruckte Blatt, das
ich kenne, und der unachtsame Leser hat nach der Lektüre von etwa drei Spalten
seine Hände total mit Druckerschwärze beschmiert. Nichtsdestotrotz ist die
„News of the World" ein festbegründetes Sonntagsunternehmen mit einem
bedeutend größeren Umsatz als der „Observer", unser bestes Sonntagsblatt.
Viele Männer und manche Frauen spielen das ganze Weekend über Golf,
und am Sonntagabend geben sie ihrer nicht allzu stark interessierten Familie einen
bis ins kleinste detaillierten Bericht über jedes Loch. Die Tennisspieler öden ihre
Mitmenschen weniger an; dieser Sport wird von Jahr zu Jahr populärer. Dann
gibt es einige wenige gute Freiluft-Schwimmanstalten, in denen Sonntags Fa-
milienbad gestattet ist. Sie sind bei den staubigen Londonern sehr beliebt, und
es könnte gut und gern mehr davon geben.
Bei schönem Wetter findet jeden Sonntagvormittag im Hyde-Park eine Parade
der haut-monde und der möchte-gern-haut-monde statt, die die neuesten Kleider
zur Schau stellen und so tun will, als wäre das Einkommen ganz mühelos ein-
gekommen. Andere wieder gibt es, die sich einen Wagen nehmen und langsam

36
 
Annotationen